Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Beschwerden der deutschen Nation, die die Reichsstände auf dem Reichstag in Worms unterbreitet haben

Signatur:
ThHStAW, EGA, Reg. E 72
Seitenangabe:
Array
Datierung:
[März 1521]
Überlieferungsform:
Abschrift
Wichtige Orte:
4066942-7
Verweis auf andere Quellen:
ThHStAW, EGA, Reg. E 72, Bl. 1r-4v [Beschwerden Herzog Georgs von Sachsen wider die Geistlichkeit].
ThHStAW, EGA, Reg. E 72, Bl. 61r-75r [Etliche Beschwerungen der deutschen Nation vom Stuhl zu Rom (wohl eine Vorlage für die Bearbeitung der Beschwerden der deutschen Nation im von den Ständen eingesetzten Ausschuss)].
Adolf Wrede (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 2. Gotha 1896, Nr. 95, S. 666-670 [Beschwerden gegen die geistliche Gerichtsbarkeit].
Historische Einordnung:
Der am 27. Januar 1521 durch Kaiser Karl V. eröffnete Wormser Reichstag wird heute vor allem mit der Person Martin Luthers in Verbindung gebracht. Hier verweigerte dieser den Widerruf seiner Lehren, woraufhin der Kaiser im Mai des gleichen Jahres mit dem Wormser Edikt die Reichsacht über Luther verhängte und ihn damit für vogelfrei und rechtlos erklärte. Auf besagtem Wormser Reichstag wurden aber unter anderem auch die „Beschwerden der deutschen Nation“ (lat. „Gravamina nationis Germanicae“) durch die auf dem Reichstag versammelten Stände erarbeitet. Diese listeten in ihrer Beschwerdeschrift 102 Kritikpunkte am Papsttum und an der Geistlichkeit auf.
Die ersten 28 Artikel der „Gravamina nationis Germanicae“ befassen sich mit den der deutschen Nation durch den Papst auferlegten Belastungen. Artikel 29 bis 58 prangern Verhaltensweisen der Erzbischöfe, Bischöfe und Prälaten an. In den Artikeln 59 bis 72 werden Missstände, die Dom- und Chorherren, Pfarrer und andere geistliche Personen betreffen, angezeigt. Die letzten Artikel richten sich vor allem gegen die geistliche Gerichtsbarkeit. Die Artikel kritisieren unter anderem die Einflussnahme des Papstes auf die Besetzung kirchlicher Ämter und auf die Vergabe von Pfründen, den Ablasshandel, die Erhebung von Gebühren für kirchliche Handlungen sowie die kirchliche Gerichts- und Strafpraxis. Eine Reform der bestehenden Zustände wird gefordert; auf welche Weise diese zu geschehen habe – ob beispielsweise über ein Konzil –, bleibt jedoch offen.
Vorläufer hatten die „Beschwerden der deutschen Nation“ bereits im Spätmittelalter. So lassen sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts private und amtliche Schriften, die ähnliche Beschwerden gegen den Papst und die Kurie sowie diesbezügliche Reformvorschläge enthielten, finden. Diese übten beispielsweise Kritik an der Praxis der Besetzung kirchlicher Ämter oder den übermäßigen Abgaben, die an die römische Kurie zu entrichten waren. Derartige Beschwerden waren auch auf den vorhergehenden Reichstagen – zuletzt auf dem Augsburger Reichstag von 1518 – vorgebracht worden.
Inhaltliche Ähnlichkeiten wiesen die „Beschwerden der deutschen Nation“ zudem zu einer der wichtigen reformatorischen Schriften Luthers, „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, die im August 1520 erschienen war, auf. Ein direkter Einfluss der „Adelsschrift“ auf die „Gravamina“ ist jedoch nicht nachweisbar. In seiner Schrift verwarf Luther unter anderem die Unterscheidung eines geistlichen und eines weltlichen Standes, kritisierte aber auch die Finanzinteressen der römischen Kurie, die die deutsche Nation belasten würden. Die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bestehenden Reformbestrebungen und die reformatorische Bewegung liefen auf dem Wormser Reichstag also zusammen.
Die schriftliche Ausarbeitung der „Gravamina“ von 1521 erfolgte auf Anweisung Karls V. Nachdem die Reichsstände den Kaiser in einer Erklärung vom 19. Februar um Unterstützung bezüglich der der deutschen Nation durch den Papst und die Geistlichkeit auferlegten Lasten gebeten hatten, forderte dieser, dass ihm diese Beschwerden schriftlich vorgelegt werden sollten. Ein Ausschuss aus weltlichen und geistlichen Kurfürsten und Fürsten erarbeitete daraufhin die „Beschwerden der deutschen Nation“. Dieser Ausschuss konnte sich bei seiner Arbeit auf Vorarbeiten einzelner Reichsstände beziehen. Zwei dieser Vorlagen, die Beschwerden Georgs von Sachsen und die Beschwerden der kleineren weltlichen Fürsten, sind überliefert. Teils wurden Artikel aus diesen Vorlagen wörtlich in die Beschwerdeschrift übernommen.
Am 22. April 1521 wurden die „Beschwerden der deutschen Nation“ auf dem Reichstag verlesen, am 21. Mai 1521 noch einmal über sie verhandelt. Eine Übergabe der Beschwerdeschrift an den Kaiser und eine Billigung durch denselben erfolgten jedoch nicht. Insofern blieb die Beschwerdeschrift ein Entwurf. Gleichwohl wurde sie mehrfach gedruckt. Auf späteren Reichstagen kam es zudem erneut zu Verhandlungen über die hierin angeführten Punkte.
Literatur:
Bruno Gebhardt, Die gravamina der deutschen Nation gegen den römischen Hof. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Reformation. Breslau 1884, S. 91-97.
Heinz Scheible, Fürsten auf dem Reichstag, in: Fritz Reuter (Hrsg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache. 2. Aufl. Köln/Wien 1981, S. 369-398, hier S. 391-396.
Adolf Wrede (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 2. Gotha 1896, S. 661-662.
Eike Wolgast, Gravamina nationis germanicae, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 14. Herausgegeben von Gerhard Müller. Berlin/New York 1985, S. 131-134.
Nachweis früherer Editionen:
Johann Erhard Kapp, Kleine Nachlese einiger, größten Theils noch ungedruckten Und sonderlich zur Erläuterung der Reformations-Geschichte nützlichen Urkunden. 3. Teil. Leipzig 1730, S. 250-327.
Adolf Wrede (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 2. Gotha 1896, Nr. 96, S. 670-704.
Bemerkung:
Ausstellungsort und Datierung nach: Hans Eberhardt/Horst Schlechte (Hrsg.), Die Reformation in Dokumenten. Aus den Staatsarchiven Dresden und Weimar und aus dem Historischen Staatsarchiv Oranienbaum. Weimar 1967, Nr. 8, S. 26.