Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Huldrych Zwingli entwirft einen Plan für eine großangelegte Unternehmung gegen den Kaiser (Consilium Gallicum)

Signatur:
StA MR, Best. 3, Nr. 1796
Seitenangabe:
Array
Datierung:
12. März 1530
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Wichtige Orte:
4068038-1, 4004617-5, 4005762-8, 4021881-8, 4025567-0, 4032215-4, 4075720-1, 4057878-1, 4060207-2, 4062501-1
Historische Einordnung:
Knapp ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr vom Marburger Religionsgespräch wandte sich Huldrych Zwingli wiederum mit einem Brief an den Landgrafen. Es ist nicht sein erster Brief, aber ein besonders wichtiger. Das Schreiben ist „zu eigener Hand“ adressiert, war klein gefaltet und mit einem durchgezogenen Papierstreifen und dem Ringsiegel verschlossen, denn es erhielt geheime politische Pläne. Philipp hatte zu diesem Zweck in einem Schreiben vom 7. Februar 1530 ein Verschlüsselungssystem eingeführt und dessen Verwendung in einem Brief vom 10. März noch einmal eingeschärft, da die Gegner schon zu viel wüssten. Einzelne Signalworte sollten nun mithilfe von Zeichen codiert werden. Philipps Handexemplar der Chiffrentafel (Anhang zum Dokument) wurde erst im späten 19. Jahrhundert von Max Lenz im Staatsarchiv Marburg wieder aufgefunden. Es befand sich unter Akten über die Auseinandersetzungen mit Braunschweig aus den 1540er Jahren, für die der Landgraf die Korrespondenz mit Zwingli noch einmal herangezogen hatte. Erst seither ist der Inhalt der verschlüsselten Briefe wieder zweifelsfrei zu deuten. Mit den Problemen der Mehrdeutigkeit hatten aber schon die Beteiligten zu kämpfen: Zwingli codierte kurzerhand eines der Symbole um, indem er es anstatt für den Herzog von Preußen für die Verbündeten der Eidgenossenschaft verwendete. Angesichts der geographisch weit gespannten Bündnisse, die er in seinem Brief skizziert, konnte so etwas leicht zu Missverständnissen und Verwicklungen führen. In einem Korrekturdurchgang löste er deshalb die Chiffre vorsichthalber am Rand auf. Für die Verschlüsselung verwendete man verschiedene Ideogramme; einzelne Zeichen besitzen auch einen direkten Bezug zu dem dargestellten Wort: Für die Lagunenstadt Venedig verwendete man ein Wellensymbol () als Piktogramm. Das Zeichen für Zwingli ist an sein Siegelbild angelehnt, das den Ring („Zwinge“) aus seinem Wappen zeigt („gespalten von Gold und Schwarz, darauf ein Ring in verwechselten Farben“). Der senkrechte Strich deutet den Wechsel der Farben an; konsequenterweise müsste er den oberen Rand des Rings deshalb schneiden. Vielleicht verzichtete man darauf, weil die Bedeutung dann allzu leicht zu erraten gewesen wäre. Ob es solche Bezüge auch für andere Personen gibt, ob etwa die Würfelseite mit den vier Augen, die man für Herzog Ulrich von Württemberg wählte, auf seine Spielernatur oder auf das wechselnde Glück seiner Herrschaft anspielte, bleibt Spekulation.
Philipps Chiffrentafel stellt ein Panel der politischen Beziehungen und Möglichkeiten dar, über die die Evangelischen Stände verfügten:
- die Beteiligten selbst: Landgraf Philipp, Kurfürst Johann von Sachsen, Pfalzgraf Ludwig, Herzog Ulrich von Württemberg, Albrecht Herzog in Preußen und die durch Zwingli organisierten Reformierten in der Eidgenossenschaft: Zürich, Bern und Basel;
- ihre Gegner: der Kaiser, Erzherzog Ferdinand, Pfalzgraf Friedrich III., der Schwäbische Bund und das Land Tirol, das im Vintschgau und im unteren Eisacktal Flanken bot, an denen Österreich verwundbar war;
- die Gegner ihrer Gegner, die als potenzielle Verbündete in Frage kamen: die bayerischen Fürsten, das sich in diesen Jahren staatlich organisierende und der Eidgenossenschaft als zugewandter Ort angehörende Graubünden, Friedrich. I. von Dänemark, der durch den Konflikt mit seinem Neffen Christian II. in die Gegnerschaft des Kaisers geraten war, die Könige von Frankreich und Polen, die Signorie in Venedig, der Woiwode von Siebenbürgen Johann Zápolya als Prätendent auf die Krone Ungarns mit seinem Gesandten Hieronymus Łasky und schließlich das Osmanische Reich;
- und schließlich die Machtmittel, die sie in ihrem politischen Kampf einsetzen konnten: Fußknechte, Reiter, Geld und die württembergische Festung Hohentwiel.
Dagegen fehlen, wie René Hauswarth bemerkt hat, andere wichtige Variablen des politischen Spiels wie das Heilige Römische Reich als Ganzes, verkörpert durch das Reichsregiment, Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach und die Stadt Nürnberg oder die als Verbindungsglied wichtige Stadt Straßburg. Dass dagegen solche Parameter fehlen, die für das süddeutsche und innereidgenössische Kräftespiel wichtig waren, wie Konstanz, Ulm und die anderen evangelischen Städte, die württembergische Herrschaft Mömpelgard-Reichenweiher (Montbéliard), Savoyen und anderseits die fünf altgläubigen eidgenössischen Orte (Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug), zeigt deutlich, dass die Chiffren in Hessen entstanden waren und primär hessische Interessen wiedergeben.
Mit „Deutschland“ und „Welschland“ ist der geographische Raum umschrieben, in dem sich die Konflikte abspielten. Aufgrund der dynastischen Verbindungen und Ansprüche waren spätestens seit der Wende zum 16. Jahrhundert politische Konflikte zu europäischen Konflikten geworden, und in diesem gesamteuropäischen Rahmen spielt sich auch das Szenario ab, das Zwingli in dem Brief entwirft und Landgraf Philipp vorstellt.

Im Februar 1530 hatte Zwingli seine skeptische Haltung gegenüber Frankreich aufgegeben und ein als „Ratschlag“ oder „consilium gallicum“ bezeichnetes Strategiepapier entworfen, mit dem er für einen auf ein Bündnis mit Frankreich gestützten Militärschlag gegen das Haus Österreich eintrat. Im Februar/März wurde es unter größtmöglicher Geheimhaltung einem kleinen Kreis von Verbündeten bekannt gegeben: ausgewählten Vertretern der „heimlichen Räte“ in Zürich, Jakob Sturm und Matthis Pfarrer in Straßburg, Johannes Ökolampad in Basel, dem Landgrafen und schließlich dem französischen Gesandten Lambert Meigret. Da Zwingli mittlerweile wusste, dass Philipp kein Latein verstand, und Indiskretionen bei der Übersetzung fürchtete, erhielt der Landgraf eine Kurzfassung („Summa“) auf Deutsch, deren Leitgedanken Zwingli in seinem Begleitschreiben nochmals hervorhob. Da sämtliche Fassungen dieses „Ratschlags“ verloren sind (erhalten blieb ein zweiter aus der veränderten Situation vom Juni 1531) stellt Zwinglis Handschreiben die einzige Überlieferung dieses Plans dar.
Zwinglis „Ratschlag“ ist das Drehbuch für eine groß angelegte militärische Auseinandersetzung mit dem Haus Österreich. Ausgangspunkt seiner Vorstellungen war der Einbezug der Krone Frankreichs in den geplanten Bündnisvertrag („Burgrecht“) zwischen Hessen und den Städten Zürich, Bern und Basel, der beim Marburger Religionsgespräch entworfen worden war. Grundbedingung für ein solches Bündnis musste sein, dass beide Seiten, Frankreich und die eidgenössischen Verbündeten, die Evangelischen gewähren ließen und die französischen Pensionszahlungen eingedämmt würden. Mit dem Pensionswesen war eine innereidgenössische Kontroverse berührt: Seit dem 15. Jahrhundert zahlten verschiedene auswärtige Mächte Jahrgelder an die eidgenössischen Orte oder einzelne Personen und sicherten sich damit beträchtlichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Zwingli war seit jeher ein entschiedener Gegner des Pensionswesens und hatte es in Zürich abgestellt. Sein Kompromissvorschlag, mit dem er von seinen bisherigen Positionen weit abrückte, zielte nun darauf, die „besonderen“, das heißt an Einzelpersonen gerichteten (und damit besonders bedenklichen) Zahlungen des französischen Königs einzustellen, die an die öffentlichen Kassen aber hinzunehmen. Durch ein solches Bündnis abgesichert, sollten die drei eidgenössischen Städte den 1511 geschlossenen Ausgleichsvertrag („Ewige Richtung“) mit dem Haus Österreich aufkündigen. Dann sollte man in drei Kriegszügen gegen Österreich ziehen: Der erst sollte Richtung Straßburg gehen, wobei das militärische Ziel nicht die verbündete Reichsstadt, sondern die habsburgischen Lande am Oberrhein waren. Der zweite sollte sich gegen Konstanz richten. Auch hierbei ging es weniger um die bis 1548 reformierte Reichsstadt am Bodensee, als vielmehr um eine Annexion des Untertanengebiets der Abtei St. Gallen („Alte Landschaft“) und habsburgischer Besitzungen in ihrem Umfeld. Der dritte Zug sollte schließlich der Rückeroberung des Herzogtums Württemberg gelten, das nach der Vertreibung Herzog Ulrichs 1519 vom Schwäbischen Bund besetzt und anschließend an das Haus Österreich abgetreten worden war. Mit diesen Schlägen gegen die österreichischen Vorlande bezweckte Zwingli eine Umkehrung der geopolitischen Verhältnisse in Oberdeutschland: Die Zerschlagung der Landbrücke zwischen der erbländisch-ungarischen und der niederländisch-burgundischen Ländergruppe Österreichs und die Herstellung einer direkten Verbindung zwischen den evangelischen Gebieten in der Eidgenossenschaft und in Mitteldeutschland. Zusätzlich sollten die Venezianer und Bündner das habsburgische Tirol von Süden und Westen in die Zange nehmen. Zwingli hatte am 15. Januar von entsprechenden Absichten von Michael Gaismair, dem nach Venedig geflohenen Anführer des Tiroler Bauernaufstandes von 1525, erfahren. Schließlich würden die Türken, die 1529 vor Wien gestanden hatten, die österreichischen Grenzen in Südosteuropa bestürmen und der Woiwode von Siebenbürgen Johann Zápolya, der Anspruch auf die Stephanskrone erhob, Ferdinands Kräfte in Ungarn binden. Damit hoffte Zwingli den Gegner von allen Seiten unter Druck zu setzen, „sodass er nicht mehr wisse, wie er sich erwehren sollte“. Falls man zusätzlich auch Herzog Ulrich in das Bündnis einbeziehen könne (die Verhandlungen liefen), würde man mit der Festung Hohentwiel, die etwa auf halbem Weg zwischen Württemberg und der Eidgenossenschaft lag, für die geplanten Kriegszüge einen Brückenkopf erhalten. In dieser Frage konnte er sich der Unterstützung Landgraf Philipps gewiss sein. Der hatte bereits am 25. Januar mit Blick auf Württemberg geschrieben, dem „Pharao“ werde eine Feder abfallen, und damit das Sprachbild vom Kaiser als Pharao eingeführt. Zwingli schrieb nun zurück, der „Pharao“ werde sich im roten Meer eine blutig-rote Kappe holen, wenn nicht gar ertrinken. Die Drastik hatte sich mittlerweile verschärft.
Abschließend beteuert Zwingli, dass er bei diesen Zürcher Planspielen, die immerhin einen größeren Kreis von Mitwissern besaßen, nichts von den Vorhaben des Landgrafen offenbart habe. Daran wird indirekt erkennbar, dass er bei seinem Aufenthalt in Marburg in geheime Überlegungen des Landgrafen eingeweiht worden war, die auf Herzog Ulrich und Württemberg zielten. Beim Marburger Religionsgespräch war also durchaus nicht nur über Religion (bzw. Trennendes der Konfessionen) gesprochen worden. Bereits am Beginn des Briefs deutet er an, dass auch Frankreich bei diesen Unterredungen eine Rolle gespielt hatte, dass der Landgraf diese Pläne aber vom Tisch gewischt hatte. Tatsächlich hatte der Landgraf Frankreich bis dahin sprichwörtlich „nicht auf dem Zettel“: Die Chiffrentafel belegt, dass er das Zeichen und die Erklärung für „König von Frankreich“ eigenhändig nachgetragen hat. Mit Zwinglis „Ratschlag“ wurde ein antikaiserliches Bündnis mit Frankreich erstmals zu einer Option im politischen Kräftespiel.
Dennoch fand Zwingli mit seinem militärischen Plänen keinen Anklang: Der König von Frankreich wollte sich nicht auf einen offenen Pakt gegen den Kaiser einlassen, solange sich seine Söhne, die er im Frieden von Madrid als Geiseln gestellt hatte, in dessen Gewalt befanden. Die grenznahen eidgenössischen Orte hatten kein Interesse an einer Aufkündigung des Friedensvertrags mit Österreich, der nach dem blutigen Schwaben- bzw. Schweizerkrieg von 1499 für Sicherheit in der Region gesorgt hatte. Und auch Landgraf Philipp, der als Reichsstand dem Kaiser oder zumindest dem Reich verpflichtet war, zeigte sich unwillig: Für ein halbes Jahr brach er den Briefkontakt mit Zwingli vollkommen ab. Denn die Vorschläge spiegelten primär zürcherische Interessen. 1534 konnte Württemberg für Herzog Ulrich zurückerobert und damit die Sache der Evangelischen in Oberdeutschland gestärkt werden. Zur Entfachung eines Flächenbrandes in den von Zwingli ausgemalten Dimensionen kam es aber nicht.
Literatur:
Casimir Bumiller, Hohentwiel. Die Geschichte einer Burg zwischen Festungsalltag und großer Politik. (Beiträge zur Singener Geschichte, Bd. 20.) Konstanz 1990, S. 99–113, 201 f.
Herbert Grundmann, Landgraf Philipp von Hessen auf dem Augsburger Reichstag 1530 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 176.) Gütersloh 1959.
W[alther] Köhler, Zu Zwinglis französischen Bündnisplänen. In: Zwingliana. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus in der Schweiz und seiner Ausstrahlung. Jahrbuch des Zwinglivereins 4, 1925, S. 302–311.
Ida Tschudi-Schümperlin/Jakob Winteler, Wappenbuch des Landes Glarus. Wappen der Glarner Geschlechter von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart in Verbindung mit einem Verzeichnis sämtlicher Bürgergeschlechter des Landes. Genf 1937, S. 98 und Taf. XL.
Nachweis früherer Editionen:
René Hauswirth, Landgraf Philipp von Hessen und Zwingli. Voraussetzungen und Geschichte der politischen Beziehungen zwischen Hessen, Straßburg, Konstanz, Ulrich von Württemberg und reformierten Eidgenossen 1526-1531. (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte, Bd. 35.) Tübingen/Basel 1968, Anhang Nr. 2, S. 261 f. und Exkurs I, S. 262-264. – Walther Köhler (Hrsg.), Zwinglis Briefwechsel. Gesammelt, erläutert und [...] bearbeitet von Emil Egli. Bd. 4: Die Briefe von 1529 bis Ende Juni 1530 (Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 10; Corpus Reformatorum, Bd. 97.) Zürich 1929, Nr. 998 und S. 651 Beilage zu Nr. 974 (Abbildung des Chiffrenschlüssels, auch in Bd. 5: Die Briefe von Anfang Juli 1530 bis Oktober 1531, Zürich 1935, S. 651). – Max Lenz, Zwingli und Landgraf Philipp. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 3, 1879, S. 28–62, 220–274, 429–463, hier S. 34-35 (Abzeichnung des Chiffrenschlüssels, danach die vorliegende Reproduktion). – Gerhard Müller, Huldrych Zwingli und Landgraf Philipp von Hessen. Eine un