Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Landgraf Philipp erbittet den Rat von Luther und Melanchthon zur Durchführung erster reformatorischer Maßnahmen in Hessen

Historische Einordnung:
Der Brief an Luther und Melanchthon wurde von Landgraf Philipp in Eile und flüchtig zu Papier gebracht, deshalb sind manche Formulierungen ungelenk oder grammatikalisch falsch („ein wyntzig ein hindnus“, „man mich [...] ubertzogen wurden“), und bei der Aufzählung der Herrschaftsträger im Reich reihte er den Kaiser aus Versehen hinter Fürsten und Herren ein, was er in einem Nachsatz zurechtrückte („[...] keyser, den ich vorgeschrieben solt habenn“). Am Ende vermerkte er erklärend, der Brief sei eilig und mit eigener Hand geschrieben und zwar „ubell“. Deshalb ließ er den Brief vor dem Versenden noch einmal durch den Kammersekretär Eberhard Ruel, der selbst zu den frühen Anhängern der Reformation im Umfeld des Landgrafen zählte und im Juli desselben Jahres eine reformatorische Schrift in Speyer in Druck gegeben hatte, abschreiben. Das kam mehrfach vor, weil, wie es in einem Brief vom März 1525 heißt, Philipp seine Schrift für unleserlich hielt. Ruels Abschrift, die das endgültige Absendedatum noch nicht aufweist, ist als einzige Überlieferung des Schreibens erhalten geblieben (übrigens verblieb sie bis Anfang des 19. Jahrhunderts im Kammerarchiv in Kassel). Ruel hatte seinerseits offenkundig Mühe mit dem Entziffern von Philipps Schrift, denn manche seiner Wiedergaben sind sehr zweifelhaft („mer sagen“ statt „wir sahen“; „dennischt“). Weil der Text nur eine Überlieferung aus zweiter Hand darstellt, glaubten sich die älteren Herausgeber, auch noch Otto Clemen in der Weimarer Luther-Ausgabe, dazu berechtigt, ihn mit weitgehenden Modernisierungen abzudrucken. Der Bedeutung des Briefs wurden sie damit keineswegs gerecht.
Denn Philipps eigenhändige Schreiben gehört zu den frühesten Zeugnissen seines schriftlichen Austauschs mit den Wittenberger Reformatoren und ist keine bloße Dankadresse, sondern wirft Fragen von sehr grundsätzlicher Bedeutung auf. Der Landgraf hatte sich 1524 der neuen Lehre zugewandt und begann nach dem Speyerer Reichstag vom Sommer 1526, der die Konfessionsfrage de facto den Landesherren in die Hand gegeben hatte, mit deren Einführung in Hessen. Melanchthon hatte er im Mai oder Juni 1524 zufällig getroffen und ihn in ein Gespräch über religiöse Fragen verwickelt, die dieser dann schriftlich mit seiner „Epitome“ (lateinisch) bzw. „Summa“ (deutsch) beantwortete. Hier werden bereits einige Themen angeschlagen, die zwei Jahre später wieder eine Rolle spielten, insbesondere was den Umgang mit überlieferten Zeremonien angeht. Etwa ein bis zwei Wochen vor Philipps Brief schrieb Melanchthon erneut an ihn (der Brief ist verloren) und beantwortete – nun konkret – Fragen nach den kirchlichen Neuerungen, nach der Abhaltung von Messe und Predigt, der Beibehaltung von Zeremonien, dem Stundengebet etc., worauf sich Philipp nun seinerseits wieder bezog.
Ein vorangehendes Schreiben Luthers ist ebenso verloren, wie die Antwort(en) Luthers und Melanchthons auf den vorliegenden Brief des Landgrafen; das nächste erhaltene Schreiben Luthers datiert erst vom November 1526. Allzu viele Schriftstücke können im Vorfeld nicht gewechselt worden sein. Umso erstaunlicher ist der vertrauliche Ton, den der Landgraf in seinem Schreiben anschlägt, das nicht wie zu erwarten wäre, als landesherrliches Reskript verfasst ist, sondern eher als Privatbrief, sich aber auch nicht lange mit den üblichen Formeln eines Briefs aufhält, sondern direkt mit „Lieber Martinus und Melanchton“ beginnt. Es sollte, so scheint es, das persönliche Gespräch fortsetzen, nicht die institutionalisierte und deshalb formgebundene Kommunikation eines Landesherrn mit zwei Doktoren. Philipp dankt beiden für ihren bisherigen Rat und richtet weitere sechs Fragen an sie, die teils bloße Nachfragen zu den vorangehenden (und daher erschließbaren) Schreiben sind, teils die Operationalisierbarkeit des neuen Bekenntnisses in der Herrschaftspraxis betreffen:

- Soll man die zweifelhaften Prädikanten wirklich entfernen, da viele Bibelstellen doch etwas anderes sagen?
- Wenn Melanchthon rät, man soll die Messe „auf die alte Weise“ halten, dann meint er doch nicht etwa die der römischen Kirche?
- Was tun, wenn sich Priester und Mönche der weltlichen Obrigkeit nicht unterwerfen wollen?
- Ein Fürst soll Frieden suchen. Das gilt für seine Person, gut und schön. Als Obrigkeit muss er aber auch den Bruder und Untertan schützen, gegen Standesgenossen, versteht sich – aber auch gegen den Kaiser?
- Alles rafft nach den Klostergütern, Fürsten, die sich evangelisch nennen, und solche, die es nicht sind. Denn Güter wollen alle gerne haben. Wie kann man sie zum Gemeinen Nutzen verwenden? Wie den Ordensleuten gerecht werden?
- Die Wittenberger möchten gegen Zwinglis „Irrlehre“ eintreten!

Das Schreiben ist von großem Ernst getragen, Philipp will auch denen, die er für verstockt hält, als eine gute Obrigkeit vor „Got und den nechsten recht“ geschehen lassen. Sein Maßstab ist die Bibel, und er scheut sich nicht, auch die Ratschläge der beiden Reformatoren an ihr zu messen. Für einen weltlichen Fürsten erweist sich Philipp bereits zu diesem Zeitpunkt als ungewöhnlich bibelfest (das hatte schon Georg Spalatin auf dem Speyerer Reichstag beobachtet), und er lässt sie deutlich spüren, dass er nicht bereit ist, deren Interpretation alleine den Theologen zu überlassen. Das sollten Luther und Melanchthon später noch mehrfach erfahren.
Mit der Frage nach der Verteidigung des Evangeliums und dem Umgang mit den Klostergütern wirft er zwei sehr grundsätzliche Probleme auf. Der Mensch soll den Frieden suchen, aber der Fürst muss für seine Untertanen eintreten, beides will er tun. Mit dieser Unterscheidung zwischen „persona privata“ und „persona publica“ folgt Philipp Gedanken, die sein Rat Johannes Eisermann etwa zur selben Zeit wiederum in Anlehnung an Luthers Zwei-Reiche-Lehre entwickelte. Es gehörte zur Aufgabe des Landesherrn, seine Untertanen gegen Friedbrecher und auch gegen Fürstengenossen zu verteidigen; das hatte Philipp mit der Niederwerfung Franz von Sickingens 1522/23 und der Bauern 1525 unter Beweis gestellt und sollte er mit den Kriegsandrohungen gegen Mainz, Würzburg und Bamberg 1528 (Packsche Händel) und den Zügen nach Württemberg (1534) und Braunschweig-Wolfenbüttel (1542) weiter demonstrieren. Was aber, wenn es zum Konflikt mit dem Kaiser käme? Als Reichsfürst, der seine Lehen 1521 aus der Hand Kaiser Karls empfangen hatte, wusste Philipp, dass Verrat gegen den Lehensherrn (Felonie) zum Verlust sämtlicher Herrschaftsrechte führen könnte; das Eingreifen des Schwäbischen Bundes gegen Herzog Ulrich von Württemberg 1519 hatte auch das erst kürzlich vor Augen geführt, und 1546 sollte er tatsächlich in die Reichsacht erklärt werden. Der Konflikt mit Kaiser und Reich würde unausweichlich werden, wenn er sein Land der Reformation zuführen würde; das stand Philipp schon zu dieser Zeit klar vor Augen.
Mit seiner lakonischen Bemerkung, dass alt- wie neugläubige Fürsten „gern gut haben“ liefert der Landgraf eine bemerkenswert offene Einschätzung, dass das (vorreformatorische wie reformatorische) Kirchenregiment vor allem auf eine Ausdehnung der Herrschaftsrechte über den geistlichen Besitz ausgerichtet war. Er wollte, das räumt er genauso offen ein, „ebenßo gern gut haben“. Aber es war ihm auch um eine dauerhafte Zweckbindung dieser Güter zum „gemeinen nutz“ zu tun, denn: „sunst ßo verkompt das gut“, ohne etwas gebessert zu haben. Hier lehnt sich Philipp wiederum an Gedanken Eisermanns an. Dafür skizziert er einen Weg, der in Hessen dann ab 1527 nach sächsischem Vorbild tatsächlich beschritten werden sollte: Das Kirchen- und – vor allem – Klostergut sollte konfisziert werden. Diejenigen Ordensleute, die im geistlichen Stand bleiben wollten, sollten davon eine auskömmliche Versorgung erhalten, die anderen eine Abfindung. Der Rest sollte in einen „Gemeinen Kasten“ gelegt werden, aus dem beispielsweise ein Pädagogium finanziert werden könnte. Zusätzlich hat der Landgraf auch die Idee, dass sich die Landesherrschaft in Notsituationen daraus bedienen könnte. Denn das würde, so das Argument, die Erhebung zusätzlicher Steuern vermeidbar machen, die Untertanen praktisch indirekt entlasten. Freilich hätte das noch ganz andere Konsequenzen gehabt: Der Fürst wäre mit diesen – sozusagen – Sonderkassen zu Geld gekommen, ohne die Landstände um ihre Bewilligung zu bitten. Damit wäre das landständische Steuerbewilligungsrecht, eine der wichtigsten Mechanismen, die Landesherr und Landschaft zusammenhielt, zugunsten eines fürstlichen Supremats auch in finanzieller Hinsicht ausgehebelt worden. Hier sprach der Machtpolitiker. Derselbe Gedanke taucht zwei Jahre später ebenfalls bei Eisermann auf. Tatsächlich sollte Philipp seine Kriegskosten aus dem Bauernkrieg zu einem nicht unerheblichen Teil aus den sequestrierten geistlichen Gütern bestreiten. Als aber 1533 die hessische Kastenordnung erlassen wurde, regelte sie in ihrem ersten Artikel: Man soll kein Geld aus dem Kasten nehmen und für den Gemeinen Nutzen verwenden, auch nicht für Bauten, Steuer, Schatzung oder Heerzüge. Der Gefahr landesherrlicher Selbstbedienung war damit ein Riegel vorgeschoben.

Philipps Schreiben zeigt also die langsame Annäherung an eine Umgestaltung des eigenen Territoriums im Zeichen der Reformation und lotet neue Herrschaftsformen dafür aus. Den Landgrafen selbst zeigt sein Schreiben sowohl als einen Fürsten, dem es um das Evangelium und seine Forderungen ging, die man durchaus enger auslegte, als das bisher der Fall gewesen war, als auch als einen Politiker, der die Chance sah, die Macht im Land zu seinen Gunsten neu zu verteilen. In diesem Sinne tastete er sich zusammen mit den Reformatoren – offen für deren Rat, aber auch um die Wichtigkeit ihrer Zustimmung wissend, um die Legitimität seines Handelns erweisen zu können – an eine neue Herrschaftspraxis im Zeichen des Evangeliums heran. Dafür gab es 1526 freilich noch keine fertigen Konzepte. Gangbare Wege in der Zukunft mussten erst gefunden, ihr Beschreiten erprobt und abgestimmt werden. Diese Offenheit der Situation muss man sich aus der Rückschau bewusst machen. Wie wenig die Dinge zu diesem Zeitpunkt festgelegt waren, auch in sprachlicher Hinsicht nicht, zeigt Philipps eigenwillige Bezeichnung für die Evangelischen: „evangeliumsch.“
Literatur:
Brita Eckert, Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der lutherischen Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. phil. Univ. Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 45 f. [Eisermann].
Franz Gundlach, Die hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Bd. 3: Dienerbuch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 16,3.) Marburg 1930, S. 219 (Eberhard Ruel).
Friedrich Küch, Landgraf Philipp und die Einführung der Reformation in Hessen. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 38, 1904, S. 210–242, bes. 217–220.
Friedrich Küch, Zum Briefwechsel des Landgrafen Philipp mit Luther und Melanchthon. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 40, 1906, S. 161–165.
Wilhelm Maurer, Theologie und Laienchristentum bei Landgraf Philipp von Hessen. In: Karlmann Beyschlag/Gottfried Maron/Eberhard Wölfel (Hrsg.), Humanitas – Christianitas. Walther von Loewenich zum 65. Geburtstag. Witten 1968, S. 84–110. [Wieder in: Wilhelm Maurer, Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Ernst-Wilhelm Kohls und Gerhard Müller. Bd. 1, Göttingen 1970, S. 292–318.
Volker Leppin, Philipps Beziehungen zu den Reformatoren. In: Ursula Braasch-Schwersmann/Hans Schneider/Wilhelm Ernst Winterhager (Hrsg.), Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567). Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Marburg-Neustadt a.d. Aisch 2004, S. 49–57.
Wilhelm Schmitt, Die Synode zu Homberg und ihre Vorgeschichte. Festschrift zur 400 Jahrfeier der Homberger Synode 1526–1925, Homberg 1926, S. 38 f. (über Eberhard Ruels Schrift „Eyn gut hertzigk bedencken“).
Hans Schneider, Die reformatorischen Anfänge Landgraf Philipps von Hessen im Spiegel einer Flugschrift. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 42, 1992, S. 131–166, hier 139, 157 f. (Eberhard Ruel).
Hans Schneider, Eine Summa der Christlichen Lehre an den Landgrafen von Hessen. Melanchthons ›Epitome‹ und die hessische Reformation. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897–1997. Festgabe dargebracht von Autorinnen und Autoren der Historischen Kommission. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 61.) Marburg 1997, Bd. 1, S. 373–400, bes. 396f.
Emil Sehling (Hrsg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 8.1: Hessen, 1. Hälfte: Die gemeinsamen Ordnungen. Tübingen 1965, Nr. 6, S. 80 f. [Kastenordnung 1533].
Fritz Wolff, Luther in Marburg. (Marburger Reihe, Bd. 19.) Marburg/Witzenhausen 1983, S. 62, Nr. 22, S. 60 Nr. 12.