Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Landgraf Philipp übersendet Luther und dem kursächsischen Kanzler Brück die aus England zugestellten Unterlagen zur Scheidungssache König Heinrichs VIII. und bittet um ein Gutachten der Universität Wittenberg

Signatur:
StA MR, Best. 3, Nr. 2687
Seitenangabe:
Array
Datierung:
16. September 1531
Überlieferungsform:
Konzept
Wichtige Orte:
4066640-2
Historische Einordnung:
Die realisierte Fassung eines Textes (Ausfertigung) ist nur eine von mehreren Textmöglichkeiten; ein Konzept macht den zu ihr führenden Entscheidungsprozess, nachvollziehbar. So kann man dem vorliegenden Konzept entnehmen, dass dem hessischen Kanzleischreiber Wolf Vogelmann bei „Universität“ automatisch „Marburg“ in die Feder floss und ihm zunächst nicht bekannt war, dass der sächsische Kanzler Gregor Brück kein Theologe, sondern Jurist war. Die Pluralform in der Anrede („theologie doctoribus“), musste er deshalb in zwei Singularworte verbessern („der rechten doctori“; „theologie doctori“). Inhaltlich bedeutsamer ist, dass zunächst von „inn der sach unser rhat unnd bedenncken“, also von Landgraf Philipps Rat, statt von „unserer gelerten rhat unnd bedenncken“, also dem Rat der (Universitäts)Gelehrten des Landgrafen, die Rede war und der ganze Exkurs über den päpstlichen Dispens erst nachträglich eingefügt wurde.
Die Verwicklungen um die erste Heirat König Heinrichs VIII. von England (bekanntlich sollten ihr noch fünf weitere folgen) reichen bis zur dynastischen Bündnispolitik am Jahrhundertbeginn zurück. 1496/97 erfolgte die gegen Frankreich gerichtete Doppelhochzeit des Habsburgers Philipp des Schönen mit Johanna von Kastilien und von Johann von Aragon und Kastilien mit Philipps Schwester Margareta. Nach seinem kinderlosen Tod fiel das spanische Erbe 1516 überraschend Philipps Sohn, dem nachmaligen Kaiser Karl V., zu. Johann‘ und Johannas Schwester Katharina von Aragon wurde 1489 dem englischen Thronfolger Arthur Tudor zugesagt, um damit ebenfalls ein gemeinsames Bündnis gegen Frankreich abzusichern. Als auch Arthur 1502 unerwartet starb, sollte sie seinen Bruder, den nunmehrigen Thronfolger Heinrich VIII. heiraten. Einer solchen Verbindung stand jedoch das Kirchenrecht mit dem alttestamentlich begründeten (Leviticus 18,16; 20,21) Verbot einer Ehe in der Schwägerschaft ersten Grades entgegen. Deshalb holte die englische Diplomatie einen Dispens Papst Julius II. ein und ließ gleichzeitig, um alle Optionen offenzuhalten, Heinrich noch kurz vor seiner Mündigkeitserklärung gegen die Ehe schriftlichen Protest einlegen. Als sich Heinrich in Katharinas Hofdame Anne Boleyn verliebt hatte und sich abzeichnete, dass aus der Verbindung mit Katharina keine männlichen Thronfolger mehr hervorgehen würden, begann er Ende des Jahres 1526 die Auflösung der seit 17 Jahren bestehenden Ehe zu betreiben. Die persönliche Leidenschaft des Königs hatte immense politische Konsequenzen: Sie brachte Heinrich in Opposition zu Kaiser Karl V., der für die Ehre seiner Tante Katharina eintrat, und zum Papst, der sich seit dem Sacco di Roma 1527 in der Abhängigkeit des Kaisers befand, bewirkte infolgedessen eine Annäherung an Frankreich und die Kaisergegner und leitete den Bruch mit Rom und die Begründung der anglikanischen Kirche ein.
Juristisch gab es mehrere Möglichkeiten, um eine Unwirksamkeit der Ehe zu erklären: Den Nachweis, dass die Ehe Katharinas mit Arthur Tudor bereits gültig vollzogen worden war (matrimonium consummatum), oder/und dass der Papst von einem göttlichen Ehehindernis überhaupt nicht hätte dispensieren dürfen (was in der Tat umstritten war) oder dass die Ehe mit Heinrich wegen seiner fehlenden Einwilligung ungültig gewesen sei. Zunächst sollten diese Umstände durch eine päpstliche Untersuchungskommission geklärt werden. Als sie England 1530 ergebnislos verlassen hatte und die Angelegenheit nach Rom gezogen werden sollte, ließ Heinrich von zahlreichen europäischen Universitäten Gutachten zu diesen Rechtsfragen einholen, um eine Zitation nach Rom zu vermeiden. Neben politischem Druck waren dabei auch Geldzahlungen im Spiel. Während die bedeutenden juristischen Fakultäten von Paris und Bologna und mehrere englische, französische und italienische Universitäten für die Unwirksamkeit der Ehe votierten, sprachen sich die Universitäten im Reich mehrheitlich dagegen aus. Gleichzeitig warb Heinrich an den Höfen von Bayern, Sachsen, Hessen, Köln, Trier und Mainz und anderen um Unterstützung. Landgraf Philipp erhielt die Aufforderung zur Stellungnahme vermutlich durch den Gesandten Paget; ihr waren die für Heinrich positiven Voten bereits beigegeben. Daraufhin beauftragte er die Universität Marburg mit einem Gutachten, das am 12. Oktober vorliegen sollte und die Möglichkeit einer Auflösung der Ehe ebenfalls verneinte. Gleichzeitig forderte Philipp Martin Luther mit dem vorliegenden Schreiben auf, sich gleichfalls dazu zu äußern.
In dem Anschreiben unterließ es Philipp nicht, zwei unmissverständliche persönliche Stellungnahmen in den Text einfließen zu lassen (und insofern mag die ursprüngliche Textfassung, dass sein „Rat und Bedenken“ gefordert gewesen sei, nicht von ungefähr kommen): (1) Komme man Heinrich in dieser Angelegenheit entgegen, so könne man ihn für die eigene Sache gewinnen. „Förderung des Evangeliums“ und „für Christus gewinnen“ meinen hier, ihn in die eigene Bündnispolitik gegen den Kaiser miteinzubeziehen. (Philipp bereitete zur selben Zeit den Saalfelder Bund mit Kursachsen und Bayern vor, der am 24. Oktober abgeschlossen werden sollte.) Das erste war also ein rein politisches Argument. (2) Luther möge bedenken, dass die Ehe aus väterlichem Zwang geschlossen sei und auf einer abzulehnenden Dispensation des Papstes beruhe. Dieses Argument war bereits von Heinrich VIII. selbst angeführt und mit seinem schriftlichen Protest vor dem Abschluss der Ehe begründet worden und wurde bspw. auch von Erasmus von Rotterdam wiederholt. Dass es von Landgraf Philipp aufgegriffen wurde, ist sehr bezeichnend für seine Persönlichkeit, denn er sprach sich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wiederholt gegen jede Form von Gewissenszwang aus. Überdies mag er bereits an seine eigene, ebenfalls bündnispolitisch bedingte Ehe gedacht haben, die ihn neun Jahre später in die Katastrophe führen sollte.
Luther war seinerseits bereits im Sommer von Robert Barnes zu einem Gutachten aufgefordert worden. Darin hatte er (übrigens ähnlich wie die päpstliche Kurie) den Akzent von der Schwägerschaftsehe zur Ehescheidung verschoben: Das Verbot im Buch Leviticus sei menschliches, kein göttliches Recht und beziehe sich nur auf die Frau des noch lebenden Bruders; das göttliche Recht verbiete es aber, eine gültig geschlossene Ehe aufzulösen. In einem weiteren Satz ist hinzugefügt: Eher solle Heinrich nach dem Vorbild des Alten Testaments zwei Frauen gleichzeitig haben (Polygamie). Die Frage der Unauflöslichkeit wurde neben der Sakramentenlehre zu einer Scheidelinie zwischen den Lutheranern und der sich nun konstituierenden anglikanischen Kirche. Am 22. September antwortete Luther Landgraf Philipp (aus diesem Brief ist die vorangehende Datierung des vorliegenden Schreibens abgeleitet). Diese Antwort ist ebenfalls aufschlussreich für die unterschiedlichen Denkweisen Philipps und Luthers. Denn anders als der Landgraf lehnte Luther eine Verquickung von Theologie und Politik strikt ab und ging deshalb auf die von Philipp vorgebrachten Argumente gar nicht weiter ein. Dafür sandte er ihm eine Abschrift seiner Stellungnahme zu. Darin ließ er den Satz über eine mögliche Doppelehe weg. Genau dieser Aspekt sollte für den Landgrafen aber bald größte Wichtigkeit erlangen: In der Problematik seiner eigenen Ehe berief er sich 1540 ausdrücklich auf das Votum Luthers von 1531.
Übersetzung:
Historical background
The completed version of a text (copy) is only one of several possible versions; a concept renders the decision process leading up to it comprehensible. From the present concept, we can learn that the Hessian chancery clerk Wolf Vogelmann automatically wrote “Marburg” when thinking about “university”, and that at first he was unaware that the Saxon Chancellor Gregor Brück was not a theologian but a lawyer. He therefore had to correct the plural in the salutation (“theologie doctoribus”) and use two singular words instead (“doctor of law” – “theologie doctori” = Doctor of Theology). What is more significant in terms of content is the fact that the note first talks about “in the matter our advice and consideration” (inn der sach unser rhat unnd bedenncken), i.e. that of Landgrave Philipp's council, instead of “our scholars’ advice and consideration” (unserer gelerten rhat unnd bedenncken), i.e. the council of the (university) scholars of the Landgrave, and that the entire digression on the papal dispensation was only added later.
The complications surrounding the first marriage of King Henry VIII of England (which, as is well known, was followed by five more) go back to the dynastic policy of alliances at the beginning of the century. 1496/97 saw the double marriage of Philip the Handsome of the House of Habsburg to Joanna of Castile and of John, Prince of Asturias, to Philip’s sister Margaret, a double alliance intended to strengthen both houses against the growing power of France. After John died childless, the Spanish succession surprisingly fell to Philip’s son, who was later to become the Emperor Charles V., in 1516. John and Joanna’s sister Catherine of Aragon was betrothed to the English heir Arthur Tudor in 1489 in order to secure a further common alliance against France. When Arthur died unexpectedly in 1502, she was supposed to marry his brother Henry VIII., now heir to the throne. However, such a union was made impossible by church law, which included a prohibition against marriage if the husband and wife were related to each other by affinity in the first degree, based on the writings of the Old Testament (Leviticus 18:16; 20:21). Therefore, the English diplomats obtained a dispensation from Pope Julius II. and at the same time, to keep all options open, had Henry submit a written objection to the marriage shortly before his declaration of maturity. When Henry fell in love with Catherine’s lady-in-waiting, Anne Boleyn, and it became apparent that the union with Catherine would yield no male heirs, he began to pursue the dissolution of the marriage of 17 years at the end of 1526. The personal passion of the king had immense political consequences: It placed Henry in opposition to Emperor Charles V., who defended the honor of his aunt Catherine, and the Pope, who had been dependent on the emperor since the Sack of Rome in 1527. It thus lead to a rapprochement with France and the opponents of the emperor and initiated the break with Rome and the founding of the Anglican Church.
Legally, there were several ways to declare a marriage void: evidence that the marriage of Catherine and Arthur Tudor had been consummated (matrimonium consummatum), or/and that the pope should not have issued a dispensation in light of a divine obstacle to marriage (which was indeed disputed), or that the marriage with Henry was invalid due to his lack of consent. After a papal investigative commission left England without any conclusion in 1530 and the matter was to be taken to Rome, Henry sought expert advice on these legal matters from numerous European universities to avoid a citation to Rome. As part of this process, political pressure was applied and sums of money changed hands. While the major law schools of Paris and Bologna and several English, French, and Italian universities voted in favor of annulling the marriage, the majority of universities in the empire were against it. At the same time, Henry solicited support from the courts of Bavaria, Saxony, Hesse, Cologne, Trier, Mainz, and others. Landgrave Philip presumably received his invitation to comment from the messenger Paget; it already contained the votes in favor of Henry. He then commissioned the University of Marburg with producing a report, which was provided on October 12th, and also rejected the possibility of dissolving the marriage. At the same time, Philip also urged Martin Luther to comment on the issue by means of the present letter.
Philip did not fail to include two unmistakable personal statements (and the phrasing of the original version of the text, which stated that HIS “advice and consideration” were required, may have been intentional): (1) If they were willing to make concessions to Henry in this matter, they could win him for their own cause. “Furtherance of the Gospel” (Förderung des Evangeliums) and winning “him for Christ” (für Christus gewinnen) here refer to a plan of involving him in their own policy of alliances against the emperor. (At the same time, Philip was forging the Saalfeld alliance with Electoral Saxony and Bavaria, which was concluded on October 24.) The first was thus a purely political argument. (2) Luther may have considered that the marriage was entered into as a result of paternal coercion and was based on an objectionable papal dispensation. This argument had already been offered by Henry VIII himself and justified on the basis of his written protest before the conclusion of the marriage and was also repeated, for example, by Erasmus of Rotterdam. The fact that it was taken up by Landgrave Philip is very characteristic of his personality because he spoke out repeatedly and in very different contexts against any form of coercion of conscience. Moreover, he may already have been thinking of his own, also politically motivated marriage that would lead him to disaster nine years later.
Luther, for his part, had already been asked to provide an expert opinion by Robert Barnes that summer. In this report he had (similarly to the papal curia, incidentally) shifted the emphasis from the marriage between relatives by affinity to divorce: He stated that the prohibition in Leviticus was established by man, not God and referred only to the wife of the surviving brother; divine law precludes, however, the dissolution of a valid marriage. A further sentence adds the following: If anything, Henry should have two wives simultaneously (polygamy) along the lines of the Old Testament. In addition to the doctrine of the sacraments, the question of the indissolubility of a marriage became a separating line between the Lutherans and the newly constituting Anglican Church. Luther responded to Landgrave Philip on September 22 (the foregoing date of the present letter has been derived from this correspondence). He fundamentally rejected the amalgamation of theology and politics and therefore did not further address the arguments raised by Philip. Instead he sent him a copy of his report. In it, he omitted the sentence about a possible bigamous marriage. However, it was exactly this aspect that would soon take on the greatest importance for the Landgrave.
Literatur:
Guy Bedouelle/Patrick Le Gal, Le « Divorce » du roi Henry VIII. Etudes et documents. Genf 1987 (S. 135–158: Christoph Martin, L’Université de Marbourg).
Guy Bedouelle, The Consultations of Universities and Scholars concerning the „Great Matter” of King Henry VIII. In: David C. Steinmetz (Hrsg.), The Bible in the Sixteenth Century. (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies, Bd. 11.) Durham/London 1990, S. 21–36.
O[tto] Clemen (Bearb.): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. [Abt. 4:] Briefwechsel, Bd. 6. Weimar 1935. Nr. 1861, S. 175–188 (1531 September 3, Wittenberg).
Hans-Ulrich Delius, Heinrich VIII. von England (1491–1547). In: Horst Robert Balz /Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 15. Berlin-New York 1986, S. 9–11.
Philipp Lange, Die englisch-deutschen Beziehungen 1531 bis 1535 mit besonderer Berücksichtigung der Politik Philipps von Hessen. (Ein Beitrag zur hessischen Aussenpolitik der Reformationszeit.) Phil.-Diss. Univ. Marburg 1924, [Darstellung] S. 9–16, 40-43, [Anmerkungen] S. 2 f., 57 f.
William Walker Rockwell, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. Marburg 1904, S. 8, 202–222.
Hans Thieme, Die Ehescheidung Heinrichs VIII. und die europäischen Universitäten. (Juristische Studiengesellschaft. Schriftenreihe, Heft 31.) Karlsruhe 1957. (Wieder in: Hans Thieme, Ideengeschichte und Rechtsgeschichte. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Köln-Wien 1986, S. 487–507).
Fritz Wolff, Luther in Marburg. (Marburger Reihe, Bd. 19.) Marburg/Witzenhausen 1983, S. 31–33, Nr. 52.
Nachweis früherer Editionen:
O[tto] Clemen (Bearb.): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. [Abt. 4:] Briefwechsel, Bd. 6. Weimar 1935, Nr. 1867, S. 197–199.
Franz Gundlach, Nachträge zum Briefwechsel des Landgrafen Philipp mit Luther und Melanchthon. In: Zeitschrift für hessische Geschichte und Landeskunde 38, 1904, S. 63–87, hier Nr. 2, S. 64 f.