Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Kraft von Bodenhausen, Statthalter zu Kassel, berichtet Landgräfin Anna von Hessen, dass der Ablasshandel in Kassel auf Weisung von Regierung und Stadt unterblieben ist

Signatur:
StA MR, Best. 3, in Paket Nr. 6
Datierung:
14. April 1517
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Wichtige Orte:
4029869-3
Historische Einordnung:
Ablasskritik gab es schon lange vor Luther. Sie hatte sehr unterschiedliche Gründe: Theologische Vorbehalte, Skepsis gegenüber den immer umfangreicher werdenden Heilsversprechen, die sich mit Verachtung für die sie verkündenden (Bettel)Mönche mischte, Empörung darüber, dass die immer neuen Ablässe jeweils zu einer Suspendierung früherer Beichtbriefe führten (das heißt, sie vorübergehend – und für einen Sterbenden vielleicht zu der entscheidenden Stunde – entwerteten), aber auch die relativ zweckrational begründete Ablehnung durch fürstliche und städtische Obrigkeiten, die den Abfluss von Finanzmitteln aus ihren Gebieten fürchteten und die überregionalen Ablasskampagnen daher verbaten, während sie sich gleichzeitig für Ablässe mit lokaler Wirkung durchaus einsetzten. Solche Ablehnung bestand auch gegenüber dem Ablass Erzbischof Albrechts, dessen Machtzuwachs durch das doppelte Erzbischofsamt (von Magdeburg und Mainz) von den anderen Reichsfürsten mit Misstrauen betrachtet wurde. Der von ihm ausgerufene Petersablass wurde deshalb von Kurfürst Friedrich dem Weisen und Herzog Georg dem Bärtigen von Sachsen in ihren Territorien ebenso verboten wie in Bayern, während man die Ablasssammler in Brandenburg aus dynastischer Rücksicht – Albrecht war ein gebürtiger Markgraf von Brandenburg – gewähren ließ. In Hessen betrachtete man den Erzbischof von Mainz ebenfalls argwöhnisch, da er nicht nur geistlicher Oberhirte in der Landgrafschaft war, sondern auch weltliches Oberhaupt eines benachbarten und mit hessischen Gebieten eng verzahnten Territoriums, zu dem seit dem Hochmittelalter ein spannungsreiches Mit- und Gegeneinander bestand. Während der Ablass in Fritzlar ungehindert gepredigt werden konnte, weil die Stadt dem Hochstift Mainz angehörte und den Erzbischof somit auch zum weltlichen Stadtherrn hatte, wurde er in der unweit gelegenen hessischen Residenzstadt Kassel unterbunden. Verantwortlich für diese Entscheidung zeichneten Kraft von Bodenhausen, der als Statthalter die Landesherrschaft vertrat und der Regierung im niederhessischen Teil der Landgrafschaft vorstand, und „die von Kassel“, also die städtischen Amtsträger.
Allerdings offenbart Bodenhausens Schreiben, dass er in dieser Frage eigenmächtig gehandelt und dafür ein Informationsvakuum geschickt ausgenützt hatte. Seine Stellungnahme fällt in den Verfassungskonflikt, der sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts zwischen der verwitweten Landgräfin Anna, dem hessischen Adel und den „verordneten Räten“, an die sie mitadressiert ist, abspielte. Kraft von Bodenhausen war 1513/14 auf die Seite der Landgräfin übergetreten; 1518 befand er sich aber wiederum unter den Opponenten und wurde deshalb Ende des Jahres entlassen. Seine Äußerungen von 1517 zeigen, dass er, wenn sich ihm entsprechende Freiräume boten, recht eigenmächtig handelte. Von der Landgräfin deshalb zur Rede gestellt – dieses Schreiben ist verloren –, antwortete er nun ausweichend mit dem Hinweis, er habe keinen ausdrücklichen Befehl gehabt und hätte bei anderslautenden Instruktionen selbstverständlich anders gehandelt. Der schriftliche Kommunikationsweg war notwendig, weil sich die Landgräfin seit dem Marburger Vertrag von 1510 auf ihre Witwensitze hatte zurückziehen müssen und ihren noch minderjährigen Sohn Philipp in Kassel zurückgelassen hatte. Diesem Umstand verdankt sich überhaupt die Kenntnis von dem Vorgang.
Neben der Autoritätsfrage, die es mit dem Konflikt zu klären galt, spiegeln sich darin Differenzen zwischen der stark kirchlichen Gläubigkeit Annas und einer eher politischen Bewertung des Ablasses durch Kraft von Bodenhausen: In seinen Augen überwog der (wirtschaftliche) Schaden, der der Stadt aus dem Ablass erwachsen würde, offenkundig bei weitem den heilbringenden Wert der Gnade, die in Kassel „aufgerichtet“ werden sollte. Solche Einschätzungen bildeten den Resonanzraum, der Luthers öffentlicher und bald veröffentlichter Ablasskritik zu ihrem ungeheuren Echo verhalf.
Literatur:
Karl E. Demandt, Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein „Staatshandbuch“ Hessens vom Ende des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, Bd. 1. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 42.1) Marburg 1981, S. 77, Nr. 270.
Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation. Eine Ausstellung des Landes Hessen. Wiesbaden 1992, S. 267, Nr. 506 d (Hans Schneider).
Pauline Puppel, Der Kampf um die vormundschaftliche Regentschaft zwischen Landgräfinwitwe Anna von Hessen und der hessischen Ritterschaft 1509/14–1518. In: Jörg Rogge (Hrsg.), Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittelalter. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 15.) Ostfildern 2004, S. 247–263.
Wilhelm Ernst Winterhager, Ablaßkritik als Indikator historischen Wandels vor 1517: Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation. In: Archiv für Reformationsgeschichte 90, 1999, S. 6–71, bes. 34–43.
Fritz Wolff, Luther in Marburg (Marburger Reihe, Bd. 19.) Marburg/Witzenhausen 1983, S. 9, Nr. 2.
Nachweis früherer Editionen:
Friedrich Wiegand, Die Stadt Cassel und der Ablass von 1517. In: ZHG 38, 1904, S. 185–188.