Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Martin Luther äußert sich über Thomas Müntzer

Signatur:
LASA, Z 8, Nr. 208
Seitenangabe:
Array
Datierung:
3. August 1523
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Wichtige Orte:
4066640-2, 4079709-0
Historische Einordnung:
Typisch für die Briefe Martin Luthers war es, nicht nur ein zentrales Thema anzusprechen, sondern gleich mehrere, die ähnlich wie in einem Gespräch ohne Überleitungen von einem zum anderen fließend übergingen. Wie in dem vorliegenden Brief diskutierte Luther über Werke von sich und anderen, kündigte neue Schriften an, sprach über politische Gegebenheiten, die insbesondere Wittenberg und den kurfürstlichen Hof betrafen, nahm aber auch am europäischen Geschehen teil. Hier wird etwa erwähnt, dass die niederländische Statthalterin, Margarete von Österreich (1480-1530), von der Stadt Bremen die Auslieferung des Reformators Heinrich von Zütphen (um 1488-1524) forderte. Auch waren alltägliche Personalangelegenheiten (hier die Berufung von Crotus Rubeanus und die Bitte Franz Lamberts um eine Gehaltserhöhung) oft Gegenstand seiner Briefe.
Besonders wichtig erscheinen aber die Aussagen Luthers über Thomas Münzer (um 1489-1525) am Ende des Briefes. Das Verhältnis zwischen beiden Männern war geprägt von einer zunehmenden Skepsis und Ablehnung, die sich zu einer offenen Gegnerschaft entwickelte. Doch wie kam es überhaupt zu diesem Konflikt?
Anfänglich existierte eine gegenseitige Wertschätzung, die sich z. B. darin äußerte, dass Müntzer auf Empfehlung Luthers eine Stelle als Prediger in Zwickau erhielt. Dies verweist auf ein gemeinsames theologisches Verständnis in der Frühphase der evangelischen Bewegung. Doch theologische Fragen waren es auch, die zu einer beginnenden Distanzierung führten, da Müntzer seine Bezugspunkte im Spiritualismus und in der Apokalyptik fand. Erste unterschiedliche Vorstellungen zum Verständnis der Offenbarung kristallisierten sich heraus und zeigen, dass Müntzer die frühen evangelischen Ansätze Luthers selbstständig weiter entwickelte. Daraus ergaben sich aber zunehmende Differenzen und Schwierigkeiten. Zudem war Müntzers Nähe zu den radikalen Zwickauer Propheten für eine mögliche Besserung des Verhältnisses nicht gerade dienlich. Nach der Entlassung Müntzers aus der Zwickauer Predigerstelle im Frühjahr 1521 entwickelte er auf seiner nun umtriebigen Wanderschaft zwischen Böhmen, Sachsen und Thüringen immer mehr sozialrevolutionären Ideen, die nicht mit den gemäßigten Reformen in Wittenberg, die Luther nach seiner Rückkehr von der Wartburg anstrebte, vereinbar waren. Die Spannungen zwischen Müntzer und Luther verschärften sich im Jahr 1523, als Müntzer zu Ostern Pfarrer in der Johanniskirche in Allstedt wurde und dort seine revolutionären Ansätze in die Praxis umsetze.
In diesen Zusammenhang sind Luthers polemische Worte aus seinem Brief zu sehen. So schreibt er, dass er Müntzer „ganz und gar nicht leiden“ könne, dass dieser gar „wahnsinnig oder betrunken“ sei. Luthers Misstrauen gegenüber Müntzer wuchs also deutlich an. Mit dessen Sendungsbewusstsein, ein Auserwählter Gottes zu sein, und den „unbiblischen“ Ausdrucksweisen konnte Luther nichts anfangen. Auch ärgerte ihn die Attraktivität, die die Allstedter Reformation auf ihr altgläubiges Umland ausstrahlte, entsprach es doch nicht Luthers Ansichten einer „richtigen“ Reformation. So bat er den Schösser von Allstedt, Hans Zeis, „dass er den Menschen (Müntzer) dazu bedrängen soll, seine Lehre mit uns abzusprechen“. Doch eine Aussprache mit Müntzer erfolgte nicht.
Wie viele andere Zeitgenossen Luthers hegte Müntzer eine tiefe Unzufriedenheit bezüglich Luthers Werdegang und reformatorischen Vorstellungen. Mit seinem sozialrevolutionären Konzept bot Müntzer eine echte Alternative zu Luther an, die zahlreiche Anhänger mobilisierte. Mit der zunehmenden Radikalisierung im Müntzerischen Denken, seine gewaltsamen Aktionen, die schließlich im Bauernkrieg mündeten, wurde Müntzer schließlich zum klaren Gegenspieler Luthers. Luther selbst sah in Müntzer nicht nur den Hauptverantwortlichen für die gewaltsame Erhebung der Bauern, sondern auch die Gestalt des Teufels. Die Auseinandersetzung zwischen Luther und Müntzer verweist eindrucksvoll auf die Tatsache, dass die Reformation aus einer große Vielschichtigkeit des Denkens entstanden ist, die sich eben nicht nur aus der lutherischen Lehre speiste.
Literatur:
Martin Brecht, Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1986.
Bernhard Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. 3. Aufl. München 1997.
Christian Peters, Luther und Müntzer, in: Albrecht Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch. 2. Aufl. Tübingen 2010, 139-142.
Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 2., durchges. Aufl. München 2013.
Max Steinmetz, Luther und Müntzer. Vorbereitende Bemerkungen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 23 (1974), 433-444.
Nachweis früherer Editionen:
Johann Aurifaber (Hrsg.), Continens Scriptas Ab anno Millesimo quingentesimo vigesimosecunduo, vsq[ue] in annum vigesimum octauum. (Epsitolarum Martini Lutheri 2) Jena 1565, 151b f. [vollständig]
Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken: vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, Bd. 2. Berlin 1826, 377–379. [vollständig]
Ernst Ludwig Enders (Hrsg.), Dr. Martin Luther‘s Briefwechsel, Bd. 4: Briefe vom September 1522 bis August 1524. Leipzig 1891, 199. [vollständig]
Gottfried Schütze, D. Martin Luther‘s bisher ungedruckte Briefe, aus Handschriften aus der öffentlichen Stadtbibliothek zu Hamburg mitgetheilt, Bd. 2: welcher lateinische und einige deutsche Briefe und Nachrichten in sich faßt. Leipzig 1781, 48. [Auszug]
Johann Georg Walch (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, Bd. 15, Teil 1: Reformations-Schriften. Zur Reformationshistorie gehörige Documente A. Wider die Papisten. Aus den Jahren 1517 bis 1524, aufs Neue herausgegeben im Auftrag des Ministeriums der deutschen ev. luth. Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten. St. Louis 1899, 2636–2638 (Anhang, Nr. 125). [vollständig, deutsche Übersetzung]
D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 3 (Briefe 1523–1525). Weimar 1933, Nr. 641, 119–121. [vollständig]
Bemerkung:
Orig.; 1 Blatt, Papier, 21x 31,2cm, beidseitig beschrieben, Brief; Rückseite: Adresse; beschädigtes Verschlusssiegel des Ausstellers; Eigenhändige Ausfertigung