Schaufenster in die Reformationsgeschichte

Das Ausstellungsmodul des Projekts präsentiert in einem „Schaufenster“ ausgewählte Dokumente aus der Reformationszeit. Ergänzend zum Digitalisat finden sich jeweils eine Transkription, eine historische Erläuterung und eine Übertragung ins moderne Deutsch, in einigen Fällen auch ins Englische. So werden die Inhalte auch für den heutigen Leser mit geringeren Vorkenntnissen verständlich.
 

Die Dokumente sind verschiedenen, teils auch mehreren Schlagworten zugeordnet. So findet man z. B.  die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther unter „Leo X.“ oder unter „Martin Luther“ wieder.

Viel Vergnügen beim Stöbern und Erkunden!

Landgraf Philipp von Hessen befiehlt, in allen Pfarreien des Landes ein Exemplar des in Marburger gedruckten Neuen Testaments anzuschaffen und öffentlich zugänglich aufzubewahren

Signatur:
StA MR, Best. 3, Nr. 69
Seitenangabe:
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Datierung:
1529 Januar 16
Überlieferungsform:
Konzept
Historische Einordnung:
Gedruckte Bibelübersetzungen gab es schon vor Luther. Die bedeutendsten von ihnen entstanden in den Offizinen von Johannes Mentelin in Straßburg, Günther Zainer in Augsburg und Anton Koberger in Nürnberg. Aber sie erschienen in kleinen Auflagen zu hohen Preisen und häufig in einer Sprache, die noch ganz dem Lateinischen verhaftet war. Deshalb blieben sie denjenigen vorbehalten, die den Text erwerben und für sich erschließen konnten.
Es entsprach jedoch der Überzeugung Luthers, dass jeder Gläubige unmittelbaren Zugang zum Gotteswort erhalten könnte und auch erhalten sollte, und das bedeutete sowohl Zugang zu einer physischen Band der Bibel, als auch einen verstehenden Zugang zu ihrem Text. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 forderte er, die Bibel solle die erste Lektüre für die Theologen sein und es „solt in den hohen unnd nydern schulen“ – also dort, wo Lesekenntnisse erworben wurden – „die furnehmst und gemeynist lection sein die heylig schrifft“, und zwar nach Möglichkeit gleichermaßen für Buben und Mädchen. Den durch die Reichsacht erzwungenen Aufenthalt auf der Wartburg 1521/22, nutzte er dazu, das Neue Testament ins Deutsche zu übertragen, wofür er nur elf Wochen Zeit benötigte. Charakteristisch für Luthers Bibelübersetzung ist, dass er sich von den starren lateinischen Konstruktionen löste und versuchte, den Sinn des Textes zu erfassen und zu vermitteln. Der Erfolg dieses Unternehmens sprach für sich: Der Druck erschien im September 1522 bei Melchior Lotter in Wittenberg und war trotz einer Auflagenhöhe von geschätzten 3.000 Stück innerhalb von nur wenigen Wochen vergriffen. Die umfangreichere Übersetzung des Alten Testaments wurde dann von Luther nicht mehr alleine vorgenommen, aber noch von ihm koordiniert. Die einzelnen Bücher erschienen jeweils unmittelbar nach dem Abschluss der Übersetzung als Einzeldrucke; 1534 sollte dann die vollständige Lutherübersetzung der Bibel vorliegen.
Noch vor diesem Datum, also vor der Fertigstellung der Gesamtausgabe, machte sich Landgraf Philipp von Hessen, der selbst ein fleißiger Bibelleser war, Luthers Forderung nach der Bibellektüre für den Laien zu eigen und ordnete den Druck einer hessischen Ausgabe des Neuen Testaments an, die zu einem festgesetzten Preis an alle Kirchen des Landes abgegeben werden sollte: Damit sollte sichergestellt werden, dass die Pfarrer ihr „Singen und Lesen“, also die Katechese, an der Lutherbibel ausrichteten. Darüber hinaus sollten diese Bibeln für jedermann zugänglich aufbewahrt werden, damit auch Arme, die nicht in der Lage waren, ein eigenes Exemplar zu erwerben, die Möglichkeit zu eigenständiger Bibellektüre erhielten: 30 Weißpfennige (Alben) entsprachen etwas mehr als einem Gulden; das war ein für ein umfangreiches Druckwerk angemessener, für die meisten Menschen aber immer noch unerschwinglicher Preis (für 30 Alben konnte man 1528 etwa zwei Kasseler Viertel [1 Viertel = 160,7 Liter] Roggen oder anderthalb Viertel Gerste bzw. Weizen oder beinahe vier Schafe kaufen). Am 29. Juni wurde der Keller bzw. Schultheiß von Limburg noch einmal eigens dazu gemahnt, den ergangenen Befehl auch auszuführen.
Der Bestimmung der Bücher sollte ihre Aufmachung entsprechen, die in dem Mandat ebenfalls festgelegt wird: Sie sollten in „groben Lettern“ gesetzt sein. „Grobe“ Lettern ist ein Fachwort aus der Druckersprache und meint Schriften, bei denen der Buchstabe den Schaft („Kegel“) der Drucktype weitestgehend ausfüllt. Auf dem wenigen Raum, den der Bleisatz für den Einzelbuchstaben vorgab, konnte so ein möglichst großer Schriftgrad erreicht und die Lesbarkeit des Textes erhöht werden. Der Großauftrag für „unseren Drucker in Marburg“ ging an Franz Rhode, der 1528 von Wittenberg nach Marburg gekommen war und die Werkstatt des im selben Jahr verstorbenen ersten Marburger Buchdruckers Johannes Loersfeld übernommen hatte. Am 23. Januar 1529 legte er die erste Ausgabe mit dem knappen Titel „Das Newe Testament | Deutsch“ vor (VD16 B 4393), ein stattlicher Band von 317 Blatt im Folioformat in schlichter, aber eleganter drucktechnischer Gestaltung. Den offiziellen Auftrag brachte nicht nur ein Wappenschild mit dem großen Herrscherwappen Philipps auf dem Titelblatt zum Ausdruck, sondern auch der Abdruck des landesherrlichen Mandats auf einem dem Titelblatt vorgeschalteten Blatt (mit leicht abweichendem Text und Datum 17. Mai 1528). Hier ersetzte der Drucker, der auch Geschäftsmann war, die Fixierung des Preises auf 30 Weißpfennige freilich durch die unbestimmtere Formulierung „ynn zymlichen wert, wie es dann taxiert worden ist.“ Sonst hielt er sich exakt an die Vorgaben: Der Bibeltext wurde in einer großen, von ihm für diesen Druck vermutlich eigens angeschafften Type gesetzt (nur 30 Zeilen pro Blatt), die von ihm sonst nur als Auszeichnungsschrift verwendet wurde, und blieb „ohne allen Zusatz“, auch ohne die Vorreden und Erläuterungen Luthers. Die Druckstöcke zu den Textabbildungen hatte Rhode nach Marburg mitgebracht. Im April erschien eine zweite, veränderte Ausgabe (VD16 B 4395); eine dritte Ausgabe stellt eine Mischform der beiden anderen dar (VD16 B 4394). Man wird mit einer Auflage von etwa 800 Stück rechnen können. Gerhard Müller hat außerdem eine französische Ausgabe erschlossen, die ebenfalls 1529 bei Rhode in Marburg gedruckt worden sei, von der sich aber bislang kein Exemplar nachweisen lässt.
Diese Bibeldrucke entstanden noch bevor Rhode am 2. September 1530 durch seine Eintragung in die Universitätsmatrikel das akademische Bürgerrecht erwarb und zeigt ihn in seiner Funktion als „Landesdrucker“, der die Landgrafschaft mit wichtigen reformatorischen Texten (außer der Bibel auch der sächsischen Visitationsordnung, den großen und kleinen Katechismus und weitere Schriften Luthers, die „Marburger Artikel“, etc.) versorgte, während er als „Universitätsbuchdrucker“ die gelehrten Erzeugnisse der evangelischen Landesuniversität verlegte.
Bereits 1349 wurde im nordhessischen Wolfhagen beurkundet, dass der Pfarrrektor Hermann Byseworm testamentarisch eine Bibel gestiftet hatte, die zum öffentlichen Nutzen aller Gebildeten (ad commune bonum omnium litteratorum) angekettet, und das heißt: zur freien Benutzung, im Chor der Kirche ausliegen sollte. An dieser Stiftung, die zudem vereinzelt steht, kann man nachvollziehen, was Bibellektüre in der Mitte des 14. Jahrhunderts bedeutete: Durch Anbringunsgort (der abgeschrankte, nicht für jedermann zugängliche Chor) und Zweckbestimmung (für die „litterati“, die Gebildeten) war das wertvolle, handgeschriebene Buch mit dem lateinischen Text einem kleinen Kreis von Gebildeten vorbehalten. Von hier aus wird noch einmal das Anliegen des Landgrafen deutlich, der auf das moderne „Massenmedium“ Druck setzte, um die deutsche Bibel flächendeckend im ganzen Land zu verbreiten, und dabei ausdrücklich nicht nur die Pfarrer, sondern auch die Gemeindemitglieder, und insbesondere die armen unter ihnen, im Sinn hatte. Was blieb, war die Hürde der Lesefähigkeit (der „litterati“ im weiteren Sinn des Wortes). Zu Beginn der Reformation waren nach vorsichtigen Schätzungen nur etwa 10–30 % der städtischen (!) Bevölkerung lesekundig, und erst mit dem Ausbau des Elementarschulwesens nahm diese Zahl zu.
Die beiden Bibelexemplare des Staatsarchivs Marburg (XI A 1488) stammen aus den Kirchen von Neukirchen und Neuhof; weitere sind aus den Pfarreien Schrecksbach und Hopfgarten (Schwalmtal) sowie aus Oppenheim bekannt. Die Bibeln hatten ihre Adressaten also offensichtlich erreicht, und damit hatte sich auch die Absicht erfüllt, zumindest in jeder Pfarrei die Lektüre der Lutherübersetzung zu ermöglichen. Zugleich trugen die „Hessenbibeln“ zur Ausbildung einer eigenen Landeskirche und der Festigung einer konfessionell begründeten Landesidentität bei.
Literatur:
Irmgard Bezzel (Red.), Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. VD 16. Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 627 < online: gateway-bayern.de/VD16+B+4393; gateway-bayern.de/VD16+B+4394; gateway-bayern.de/VD16+B+4395 >.
Ursula Braasch-Schwersmann/Hans Schneider/Wilhelm Ernst Winterhager (Hrsg.), Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567. Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Neustadt an der Aisch 2004, S. 238 f. (Uwe Bredehorn).
Uwe Bredehorn (Bearb.), Marburger Frühdrucke 1527–1566. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg. (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, Bd. 33.) Marburg 1987, S. 49–51, Nr. 27.
Uwe Bredehorn/Gerold Jäger/Ana Maria Mariscotti de Görlitz (Bearb.), Litterae Lutheranae. Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg zum 500. Geburtstag Martin Luthers. (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, Bd. 16.) Marburg 1983, S. 105 f., Nr. 77.
A[rrey] von Dommer, Die aeltesten Drucke aus Marburg in Hessen 1527–1566. Marburg 1892, S. (5)-(11), 13–17, Nr. 18.
A. Ihlenfeldt, Art. „Grob“. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. 3. 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 266.
[Joachim Karl Friedrich] Knaake (Hrsg.), An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, [Abt. 1] Bd. 6. Weimar 1888, S. 381–469, hier 461. [Zitat Schulwesen.]
Gustav Könnecke (Hrsg.), Hessisches Buchdruckerbuch, enthaltend Nachweis aller bisher bekannt gewordenen Buchdruckereien des jetzigen Regierungsbezirks Cassel und des Kreises Biedenkopf. Marburg 1894, S. 217 f.
Ulrich Friedrich Kopp, Bruchstücke zur Erläuterung der Teutschen Geschichte und Rechte, Bd. 2. Kassel 1801, S. 194, Nr. XIII. < online: urn:nbn:de:bvb:12-bsb10002057-3 > [Bibelstiftung Byseworms.]
Kersten Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 24.5.) Marburg 1980, S. 381, 385. [Preisvergleiche.]
Joachim-Felix Leonhard (Bearb.), Biblia. Deutsche Bibeln vor und nach Martin Luther. Ausstellung der Universitätsbibliothek. (Heidelberger Bibliotheksschriften, Bd. 5.) 2. Aufl. Heidelberg 1982.
Gisela Möncke, Marburger Drucke der Jahre 1527 bis 1566: Ergänzungen zur Bibliographie Arrey von Dommers. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 65, 2010, S. 88–156, hier 89, 98 Nr. 18.
Gerhard Müller, Franz Lambert von Avignon und die Reformation in Hessen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 24.4 / Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landgrafen Philipp des Großmütigen, Bd. 4.) Marburg 1958, S. 87 f., 129 f., Nr. IV. [Französische Ausgabe.]
Paul Pietsch, Bibliographie der deutschen Bibel Luthers 1522–1546. in: D. Martin Luthers Werke [Abt. 3]: Die Deutsche Bibel, Bd. 2. Weimar 1909, S. 201–727, hier Nr. 138, S. 464–472.
Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 51.) Wiesbaden 2007, S. 602 f.
Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Johannes Fried (Hrsg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. (Vorträge und Forschungen, Bd. 30.) Sigmaringen 1986, S. 9–33, hier 32.
Fritz Wolff (Bearb.), Marburger Religionsgespräch 1529–1979. Ausstellung im Hess. Staatsarchiv Marburg anläßlich der 450. Wiederkehr des Marburger Religionsgesprächs. Marburg 1979, S. 11, Nr. 4.6.
Nachweis früherer Editionen:
Vgl. Günther Franz (Bearb.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 2: 1525–1547 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 11,2), Marburg 1954, Nr. 99, S. 67 f. (1528 Mai 17, Kassel).