Historische Einordnung:
Das um 1140 gegründete Zisterzienserkloster Haina gehörte bei seiner Aufhebung zu den reichsten Klöstern in Hessen. Während die Mehrzahl der Mönche in ihre Abfindung einwilligte, setzten der Abt und ein Exilkonvent in Mainz dem Landgrafen bis 1558 zähen Widerstand entgegen. Seit 1530 zeichnet sich der Plan ab, Haina in ein Hospital umzuwandeln. Es wurde zu einem der insgesamt vier hessischen Landeshospitäler in den vier Gebietsteilen der Landgrafschaft – Haina in Oberhessen, Merxhausen in Niederhessen, Hofheim (bzw. Riedstadt) in der Ober- und Gronau in der Niedergrafschaft Katzenelnbogen –, die seit 1548 als Hohe Hospitäler bezeichnet wurden; Pläne zur Gründung eines weiteren Spitals in Wirberg (Gde. Reiskirchen) und von sechs Siechenhäusern wurden nicht mehr verwirklicht. Entgegen dem heutigen Wortverständnis waren die Hospitäler keine Krankenhäuser, sondern Fürsorgeeinrichtungen für Alte und Kranke. Ihre Gründung markiert den Beginn der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen – und erwies sich als eine Neuerung von großer Nachhaltigkeit. Denn die Hospitäler blieben über die Landesteilung von 1567 hinaus während der gesamten Frühen Neuzeit als eine gesamthessische Institution bestehen und existieren (mit Ausnahme von Gronau) als psychiatrische Krankenhäuser bis heute fort.
Wie viele Maßnahmen Landgraf Philipps erfolgten die Hospitalgründungen in einer Gemengelage aus persönlicher Frömmigkeit und seinem Willen zum Umbau des Landes im Zeichen der Reformation und zur Festigung der Landesherrschaft. Die Landeshospitäler waren keine Gedenkstiftung mehr, wie sie im Spätmittelalter an zahlreichen (städtischen) Hospitälern bestanden und wie sie noch einmal Kaiser Maximilian I. in seinem an der Jahreswende 1518/19 entstandenen Testament plante, in dem er bestimmte, in Wien, Linz, Steyr, St. Veit an der Glan, Krain, Breisach, Augsburg sowie Antwerpen je ein Armenspital zu errichten. Sie sollten dazu beitragen, sein Seelenheil zu sichern, denn Arme galten als besonders wirkmächtige Fürbitter. Auch die Spitalordnung für Haina sieht vor, dass die Insassen für den Landgrafen beteten (und die Hohen Hospitäler trugen auch – bis in die Gegenwart – zu Philipps Nachruhm bei), aber nicht mehr für sein Seelenheil. Alleine schon die Dimensionen der neuen Einrichtungen, die für mehrere Hundert Personen bestimmt waren, machen deutlich, dass im Vordergrund ein sozialpolitisches Anliegen stand, nämlich die vom Landesherrn verantwortete Fürsorge für die Untertanen. Diesseits der Alpen gab es dafür kein Vorbild.
Anders als in Maximilians Plänen wurden die vier hessischen Hospitäler auch bewusst nicht in Städten, sondern auf dem Land und für die arme Landbevölkerung eingerichtet. Sie übernahmen damit einerseits eine Komplementärfunktion zu den bereits bestehenden städtischen Spitälern, die etwa zu derselben Zeit (1531–1534) von der Landesherrschaft visitiert und ebenfalls auf eine neue Grundlage gestellt wurden. Anderseits füllten die Hospitäler eine Leerstelle, die durch die Auflösung der Klöster entstanden war, insbesondere der auf dem Land gelegenen Klöster der Mönchsorden (als „Feldklöster“ bezeichnet), die seit jeher ein Anlaufpunkt für Bedürftige waren. Im Gegensatz zu den Klöstern waren die neuen Hospitäler freilich der Landesherrschaft unmittelbar unterstellt und blieben in ihrem Wirkungsbereich auf das Territorium beschränkt, erfüllten also Funktionen zur Landesorganisation. Zudem erfolgten die Gründungen erst mit deutlichem Abstand zur Aufhebung der Klöster und wurden auch nur mit einem Teil des ursprünglichen Klostervermögens ausgestattet. Gleichwohl dienten sie als willkommene Rechtfertigung für die Klosteraufhebungen, denn die Widmung für die Armen war ein praktisch unabweisbares Argument. Das zeigt sich besonders deutlich an Philipps vergeblichem Versuch, die Marburger Deutschordenskommende in ein (städtisches) Spital umzuwandeln, oder eben auch an den Auseinandersetzungen mit dem besonders hartnäckigen Konvent von Haina, die sicherlich für die Auswahl Hainas mitbestimmend waren.
Die Spitalordnung von Haina, die nur als spätere Abschrift überliefert ist, liegt in ähnlicher Weise auch für Merxhausen vor. Von Karl E. Demandt wurde ein gemeinsames „Grundstatut“ erschlossen, das 1535 auf das Spital Hofheim übertragen wurde und daher in den Jahren 1533–1535 entstanden sein muss. Es geht im Wesentlichen auf Heinz von Lüder zurück, der über lange Jahre hinweg als Hauptmann in hessischen, 1534–1536 vorübergehend auch in württembergischen Diensten gestanden hatte, seit 1532 zu den Vorstehern des Spitals Haina gehörte und 1543 schließlich zum Obervorsteher der vier Hohen Hospitäler werden sollte. Gegenüber dieser Grundordnung weist die Hainaer Ordnung einige ortstypische Veränderungen und Erweiterungen auf. Sie besteht aus drei unterschiedlichen, auch zu unterschiedlichen Zeiten – zwischen 1535 und spätestens 1559 – entstandenen Teilen: (1) einer allgemeinen Einleitung, Regelungen über das Zusammenleben der Bewohner und die Abhaltung des Abendmahls sowie eine Aufgabenbeschreibungen für die oberen Spitalämter, (2) Vorschriften zur Güterverwaltung, zur Abgabe von Almosen und für die Spitaldienstleute und (3) einer Holzordnung. Daraus wurden hier diejenigen Abschnitte ausgewählt, in denen Aussagen über die Zweckbestimmung des Hospitals und den Alltag seiner Bewohner getroffen werden. Vier Aspekte stehen dabei im Vordergrund: Eine hinlängliche Hygiene und ausreichende Ernährung, die religiöse Praxis und eine angemessene Beschäftigung.
Zu Beginn der Ordnung wird der Charakter der neuen Einrichtung näher bestimmt als „ewiges Armenspital“ und der Personenkreis umschrieben, der in Haina Aufnahme finden sollte: Männer über 60 Jahren, also gemessen an der damaligen Lebenserwartung alte Menschen, die ein langes Arbeitsleben hinter sich hatten (Frauen wurden in Merxhausen untergebracht). Die Aufnahme von Jüngeren war zunächst nur in Ausnahmefällen vorgesehen, wenn sie gebrechlich bzw. gehandicapt waren und nicht für sich selbst aufkommen konnten. Die Auswahl sollte alleine nach Bedürftigkeit erfolgen, alle Arten von Gefälligkeiten (Klientelwirtschaft), wie sich „Menschensinn das erdenken mag“, sollten ausgeschlossen bleiben. Insgesamt sollten bis zu 100 Menschen oder so viele, wie man aus den Einnahmen unterhalten konnte, dauerhaft Unterkunft finden (tatsächlich waren es schon 1573 mehr als 300). Von diesen Einwohnern strikt getrennt („vor dem Tor“) sollten Reisende und Ortsarme, deren Armut freilich zunächst festzustellen war, mit Almosen versorgt und, beschränkt auf eine Nacht, beherbergt werden. Das gehörte zu den traditionellen sozialen Aufgaben von Klöstern und Spitälern. Auch die Hospitalordnung zeigt noch einige Nachklänge des Klosterlebens, die vielleicht darauf zurückzuführen sind, dass einige Mönche wie der ehemalige Klosterkellner Johann von Dexbach in Haina verblieben und ihre Erfahrungen in die neue Einrichtung einbrachten. Dazu gehört die Bezeichnung der Spitalbewohner als „Brüder“. Auch die Tischlesung, die die körperliche Speisung um eine geistige ergänzte, wurde aus dem Klosteralltag übernommen; an die Stelle der früher üblichen Legenden- und Erbauungsliteratur traten nun freilich – sola scriptura – Bibel und Katechismus, wobei die theologisch komplexe und in ihren Szenarien verstörende Offenbarung des Johannes offenbar bewusst ausgespart bleiben sollte. Anstatt des klösterlichen Stundengebets gab die Ordnung einen festen Tagesablauf vor, der den Tag durch gemeinsames Beten, Essen und Arbeiten strukturierte. Der Speiseplan wird von „Gemüse“ bestimmt, das heißt Mus, dessen Grundbestandteile Getreide und Hülsenfrüchte bildeten, weist aber auch hohe Fleischanteile auf (von denen bei Maximilian keine Rede war). Als traditionelle Fasttage bleiben der Mittwoch und Freitag vom Fleischverzehr ausgenommen. Ausdrücklich werden die Aufseher dazu angehalten, bei den Mahlzeiten anwesend zu sein, um die Abläufe zu kontrollieren. Interesse verdient auch, dass die mangelnden Tischsitten der Bewohner ausdrücklich angesprochen werden. Die bei den Oberschichten voranschreitenden Zivilisationsstandards gaben nun also bereits den Maßstab für deren Blick auf die dörflichen Unterschichten ab. Die Begrenzung von einer Schüssel auf je vier Personen und die Portionierung von Mahlzeiten sollte Streit vermeiden helfen. Auch hinsichtlich des religiösen „Basiswissens“ gibt sich die Ordnung keinen Illusionen hin: Die Beherrschung von Dekalog, Glaubensbekenntnis und Vaterunser werden als Mindestvoraussetzungen für ein christliches Leben bezeichnet. Tägliche Erbauung, Vorträge aus dem Katechismus und das Erlernen von Psalmen sollten zu einer aktiven religiösen Praxis anleiten. Das Abendmahl wurde durch ein anschließendes „Festessen“ besonders hervorgehoben. Ihm ging ein Beichtgespräch mit Absolution voraus, das aber nicht mehr im altkirchlichen Sinn als sakramentale Vermittlung göttlicher Gnade zu verstehen ist, sondern, Luthers Lehre gemäß, als eine Form katechetischer Zuwendung, als brüderlicher Trost und Heilmittel. Zu festen Zeiten am Tag sollten die Menschen Arbeiten verrichten. Wiederum ähnlich der Benediktsregel betont die Ordnung, dass die Arbeit an den Möglichkeiten des einzelnen bemessen sein und niemanden überfordern soll. Sie sollte nicht um eines Ertrages willen, also aus ökonomischen Gründen, verrichtet werden, sondern aus geistlichen Gründen, um den Gefahren des Müßiggangs, hinter dem die Sünde und der Teufel selbst lauern, zu entgehen. Alle diese Vorschriften werden biblizistisch unterlegt und legitimiert.
Die Verbindung, die die neuen sozialen, politischen und theologischen Diskurse miteinander eingingen, zeigt sich besonders deutlich an der biblischen Begründung der Hygieneerfordernisse: Der Körper soll gepflegt werden, um sich von den Tieren abzuheben („Saustall“) und dem Bibelwort zu entsprechen. Schon in der Einleitung nimmt die Ordnung für sich in Anspruch, dass sie aus christlichem Sinn sozialdisziplinierend auf den Lebenswandel der Spitalbewohner einwirke, was in eigenen Disziplinarordnungen später noch verschärft wurde. Bei aller anerkennenswerten Wohltätigkeit zeugt sie daher auch unverkennbar vom Bestreben des frühmodernen Staates, auf den einzelnen Untertanen zuzugreifen und seine Lebensvollzüge bis in die Behandlung des Körpers und die religiöse Praxis hinein zu regulieren.
Literatur:
Karl E. Demandt, Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen. Eine quellenkritische Untersuchung der Gründung und Ordnung, der Belegung und Verwaltung der vier Hohen Hospitäler Hessens unter besonderer Berücksichtigung von Haina und Merxhausen im frühen 16. Jahrhundert. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 30, 1980, S. 176–235.
Karl E. Demandt, Die Hohen Hospitäler Hessens. Anfänge und Aufbau der Landesfürsorge für die Geistesgestörten und Körperbehinderten Hessens (1528–1591). Mit besonderer Berücksichtigung der Hospitäler Haina und Merxhausen. In: Walter Heinemeyer/Tilman Pünder (Hrsg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 47.) Marburg 1983, S. 35–133.
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 158/159.) 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997.
H. C. Erik Midelfort, Protestant Monastery? A Reformation Hospital in Hesse, in: Peter Newman Brooks (Hrsg.), Reformation Principle and Practice. Essays in honour of Arthur Geoffrey Dickens. London 1980, S. 71–93.
H. C. Erik Midelfort, A history of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford/California 1999, S. 322–384 („Madness as Helplessness: Two Hospitals in the Age of the Reformations”).
Imtraut Sahmland, Das hessische Hohe Hospital Haina in der frühen Neuzeit. In: Paul Jürgen Wittstock (Red.), Elisabeth in Marburg. Der Dienst am Kranken. Eine Ausstellung des Universitätsmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Marburg. Kassel 2007, S. 94–133.
Edith Schlieper, Die Ernährung in den Hohen Hospitälern Hessens 1549–1850, mit einigen kulturgeschichtlichen Beobachtungen. In: Walter Heinemeyer/Tilman Pünder (Hrsg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 47.) Marburg 1983, S. 211–265.
Christina Vanja, Die Stiftung der Hohen Hospitäler in Hessen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Arnd Friedrich/Fritz Heinrich/Christina Vanja (Hrsg.), Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte. Zum 500. Geburtstag Landgraf Philipps des Großmütigen. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 11.) Petersberg 2004, S. 17–32.
Inge Wiesflecker-Friedhuber (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 14.) Darmstadt 1996, Nr. 82, S. 289–295.