Verweis auf andere Quellen:
Heinz Scheible/Christine Mundhenk (Hrsg.), Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Regesten Bd. 3, bearb. von Heinz Scheible. Stuttgart- Bad Cannstatt 1979, S. 15; Texte Bd. 9, bearb. von Christine Mundhenk unter Mitwirkung von Marion Bechtold et al. Stuttgart- Bad Cannstatt 2008, S. 27–32, jew. Nr. 2336 (1540 Januar 1 [Wittenberg]). [Lateinischer Text]; vgl. Nr. 1276 (Regesten Bd. 2, bearb. von Heinz Scheible. Stuttgart- Bad Cannstatt 1978, S. 79 / Texte Bd. 5, bearb. von Walter Thüringer unter Mitwirkung von Christine Mundhenk. Stuttgart- Bad Cannstatt 2003, S. 336–340) (1532 [August, Wittenberg]). [Vorrede zum Druck von 1532.]
Karl Gottlieb Bretschneider (Hrsg.), Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia, Bd. 3. (Corpus reformatorum, Bd. 3.) Halle (Saale) 1836, Sp. 896–901, Nr. 1905 (mit Ergänzung in Bd. 20, hg. von Heinrich Ernst Bindseil. Braunschweig 1854, S. 786) [Lateinischer Text].
Historische Einordnung:
Philipp Melanchthons „Epistel an den Landgrafen von Hessen“ entstand eigentlich als Widmungsbrief zu seinem Kommentar über den Römerbrief des Apostels Paulus (Commentarii in Epistolam Pauli ad Romanos [...] recogniti et locupletati, Straßburg: Kraft Müller, 1540; VD16 M 2743). Melanchthon hatte diesen Kommentar erstmals 1532 gedruckt und mit einer Vorrede an Kardinal Albrecht von Mainz versehen (Wittenberg: Josef Klug, 1532; VD16 M 2741), in der er das Werk als Beitrag zum Frieden bezeichnet und die Erwartung geäußert hatte, dass Albrecht der Kirche zu Hilfe zu kommen möge. Die Neuauflage von 1540 wurde von ihm nun, bezeichnend genug, Landgraf Philipp zugeeignet. Da dieser Widmungsbrief einige grundsätzliche Äußerungen enthielt – Äußerungen über die Bedeutung des Römerbriefs, die Bedeutung der Schriftreinheit und reinen Lehre und die Rolle, die er dabei den Fürsten zudachte –, wurde er unmittelbar nach oder noch während der Veröffentlichung des Drucks von Justus Jonas ins Deutsche übertragen. Jonas (1493–1555) war Theologieprofessor in Wittenberg, Wegbegleiter und Mitstreiter Luthers und in der Außenwahrnehmung des Johannes Cochläus zusammen mit Luther, Melanchthon und Bugenhagen „einer der vier Apostel der Reformation“. Bei seiner Übersetzung hielt er sich nicht sklavisch an die Vorlage, sondern kürzte an einigen Stellen und formulierte andere um. Im Gegensatz zu dem lateinischen, gelehrten, theologischen Bibelkommentar sollte die deutsche Übertragung ein weiteres Publikum erreichen. Dennoch mutete Jonas seinen Lesern einiges zu, weil dem Separatdruck sowohl der unmittelbare theologische, als auch der politische Zusammenhang, indem Melanchthons Äußerungen entstanden waren, fehlte.
Der Römerbrief gehört zu den umfangreichsten und theologisch bedeutendsten Briefen des Völkerapostels, der viele grundlegende Aussagen enthielt: Über das Verhältnis von Sünde und Erlösung, den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und – mit der zentralen Aussage „sie sind allesamt Sünder und [...] werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (3, 23–24) – über die Rechtfertigung aus dem Glauben. Die Text ist allerdings, insbesondere gegen Ende, nicht einheitlich überliefert, und die Textgenese und ursprüngliche Textgestalt des Briefs sind bis heute umstritten. Insbesondere aber war bis zur Reformationszeit eine umfangreiche Kommentar- und Auslegungstradition entstanden, an der die Reformatoren Anstoß nahmen. Luther war bei der Lektüre des Römerbriefs zu der Überzeugung gelangt, dass der Mensch allein aus Gnade, nicht durch seine Werke vor Gott bestehen könne, und hatte darauf aufbauend seine Rechtfertigungslehre entwickelt. Er sah in diesem Brief die Kernelemente des Christentums zusammengefasst. Melanchthon nannte ihn in der lateinischen Textfassung der „Epistel“ „methodus doctrinae coelestis“ („Grundsätze der himmlischen Lehre“), was Justus Jonas mit „summa zu der gantzen Christlichen lere“ (Bl. A 4r) ins Deutsche übertrug und hier mit „Essenz des christlichen Glaubens“ wiedergegeben wurde.
Melanchthons „Epistel“ zerfällt im Wesentlichen in drei Teile:
Zunächst spricht Melanchthon der Philologe: Ausgehend von der Feststellung, dass die meisten Menschen die christliche – meint: evangelische – Lehre nicht annehmen würden, betont er die Notwendigkeit, für reine, unverfälschte Texte zu sorgen. Gerade der Römerbrief sei wie kein zweites biblisches Buch durch die Kommentartradition entstellt und doch ein Hauptwerk – hier fällt das Wort vom „methodus“ bzw. „Hauptbuch“ – der christlichen Lehre. Melanchthon betont mehrfach, dass er sich in seinem Kommentar eng an den Text gehalten habe.
Dann spricht Melanchthon der Wissenschaftsorganisator: Er fordert die weltlichen Fürsten auf, für die Textreinheit einzutreten, da von den geistlichen Fürsten nichts zu erwarten sei. Auf dem künftigen (wegen der Glaubensspaltung abzuhaltenden) Konzil sollten sich Gelehrte über den Römerbrief austauschen und dann einen annehmbaren Kommentar erstellen. Wäre der Brief nicht durch die Kommentierung entstellt gewesen, wäre die Kirche nicht so weit abgeirrt: Melanchthon bezieht sich hier auf die Rechtfertigungslehre. Er fügt noch die Spitze an, über die christlichen Texte zu wachen, sei einem Bischof würdiger als Kriege zu führen. Diese Worte sind auch von der Enttäuschung geprägt, bei Kardinal Albrecht mit seiner Widmung von 1532 nicht durchgedrungen zu sein.
Daraufhin spricht Melanchthon der Politiker: Er skizziert nun allgemein die Rolle der Fürsten als Beschützer der evangelischen Lehre und gibt ihr eine lange biblische Vorgeschichte von Abraham bis Paulus. Er habe seine Schrift Philipp zugeeignet, weil dieser die Ausbreitung der evangelischen Lehre bisher treu gefördert habe (Bl. B 4r f.). Dafür erwarte ihn der Dank und das Gebet der Gottesfürchtigen, die Barmherzigkeit Gottes und die Anerkennung der Nachwelt – Gotteslohn und Ehre, das sind theologische und humanistische Kategorien. Schließlich gipfelt die Schrift in einem Herrscherpanegyrikus auf den Landgrafen, mit dem Melanchthon den Herrscher zugleich charakterisiert. Der Rhetoriklehrer greift hier im Lateinischen zu einem Vokabular, das das humanistische und vor allem evangelische Herrscherideal beschreibt: „virtutes [...] togatae et bellicis“, „iusticia et gravitas in gubernatione, magnitudo et fortiduo consilii“, „pietas erga Deum“: Tapferkeit in Krieg und Frieden – Gerechtigkeit, strenge Herrschaft, kühner und tapferer Rat – Frömmigkeit gegenüber Gott. Jonas verwässert diese Beschreibung, wohl weil der Signalcharakter der Worte im Deutschen nicht gegeben war: ehrliche, hochlöbliche Taten in Kriegs- und Friedenszeiten, Festhalten an Gerechtigkeit, Ehre und Tugend, geneigtes Gemüt in Sachen des Evangeliums (Bl. C 2r f.). Dann fügt Melanchthon persönliche Beobachtungen über den Landgrafen an, die er seit den ersten Kontakten 1524, teilweise durchaus leidvoll erfahren hatte: Philipps Eigenschaft, selbst zu ergründen, welche Lehre, welche Art von Gottesdienst richtig und falsch sind. Die Versicherung des Landgrafen, er wolle die evangelische Lehre schützen und sich von dem, was in der Bibel begründet ist, nicht abbringen lassen – nicht durch Hass, Neid oder Zwang, und in nichts einwilligen, was der Lehre der Apostel und der heiligen Schrift zuwider wäre. Das habe er nicht nur in Melanchthons Beisein, sondern auch in Gegenwart vieler anderer geäußert.
Melanchthon setzte also auf ein Zusammenspiel von Textreinheit und Lebensvollzug, von Philologie und fürstlichem Schutz für die neue Kirche, die für ihn die eigentliche ist, und festigte damit die Bindung zwischen evangelischer Lehre und Territorialfürstentum unter Ausklammerung der bisherigen Kirchenvertreter. Damit schloss sich ein Kreis zu seiner Schrift „Epitome“ (bzw. deutsch „Summa“) von 1524, mit er den damals noch zögerlichen Landgrafen für die neue Lehre und als Beschützer einer aufzubauenden Landeskirche gewinnen wollte. Wie damals war auch die „Epistel“ ein Versuch, den Landgrafen durch die öffentliche Anrede zu binden.
Melanchthons Worte waren konkret in die politische Situation an der Jahreswende 1539/40 hineinformuliert: In den bevorstehenden Religionsgesprächen von Hagenau (Haguenau) und Worms, an denen Landgraf Philipp teilnehmen sollte, sollte noch einmal um einen Ausgleich mit der altkirchlichen Lehre gerungen werden. Mit Sätzen wie „Und wir erleiden deshalb Verfolgung, wie Paulus sagt, weil wir das Evangelium wieder am Tag predigen und auf den lebendigen Gott hoffen“ (Bl. B 4r) sollte der Landgraf in seiner Position bestärkt werden. Für Melanchthons Herrscherlob war nur ein besonders kurzes Zeitfenster gegeben.
Am 10. Dezember 1539 hatten Luther und Melanchthon den „Wittenberger Beichtrat“ unterzeichnet, mit dem sie den Landgrafen in diskreter Weise aus seiner Gewissensnot wegen seiner außerehelichen Beziehung(en) befreien wollten. Am 4. März 1540 nutze dieser das Dokument, um seine Doppelehe einzugehen, und nach deren Bekanntwerden entstand daraus eine Kontroverse unter öffentlichen Schuldzuweisungen, die das Verhältnis zu den Wittenberger Reformatoren erheblich belastete. Sie setzte dem sensiblen Melanchthon ebenso zu, wie Philipps Annäherung an den Kaiser 1541, sodass er darüber schwer erkrankte. „Ich will keinem kein buch mer zuschreiben“, resümierte Luther daraufhin in seinen Tischgesprächen: „Es ist dem Philippo [Melanchthon] nicht woll geraten mitt dem bischoff [= Albrecht von Mainz], Anglo [= Heinrich VIII. von England], Hesso [= Landgraf Philipp].“
Literatur:
Horst Balz, Römerbrief. In: Theologische Realenzyklopädie 29, Berlin-New-York 1998, S. 291–311.
Irmgard Bezzel (Red.), Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. VD 16. I. Abt., Bd. 13. Stuttgart 1988, S. 477, Nr. M 4000 < online:
gateway-bayern.de/VD16+M+4000 >.
Demosthenes, Politische Reden. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Wolfhart Unte. (Reclam Universal-Bibliothek, Bd. 957.) Stuttgart 1985, S. 151, 229 f. [Zitate].
E. Kroker (Hrsg.), D. Martin Luthers Tischreden 1531–1546, Bd. 4: Tischreden aus den Jahren 1538–1540. (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 4.). Weimar 1916, S. 640, Nr. 5067. [Gesprächsnotiz Luthers.]
Wilhelm Maurer, Philipp Melanchthon und die Reformation in Hessen, In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 11, 1961, S. 64–89. [Auch separat. Wieder in: Wilhelm Maurer, Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Ernst-Wilhelm Kohls/Gerhard Müller, Bd. 1: Luther und das evangelische Bekenntnis. Göttingen 1970, S. 267–291.]