Historische Einordnung:
Der Sommer 1518 war ein sehr angespannter und dramatischer Zeitabschnitt in Luthers Leben. Seine Ablassthesen hatten eine große Verbreitung und breite Resonanz seit ihrer Veröffentlichung 1517 erfahren. Darin übte er starke Kritik an den herrschenden Frömmigkeitspraktiken und der gängigen Bußauffassung. Die als Druck herausgegebenen Ablassthesen lösten den sog. Ablassstreit aus, indem die Gegenseite die Thesen Luthers zu widerlegen versuchte. Besonders Johann Tetzel und Johannes Eck waren bekannte Vertreter dieses öffentlichen, zunächst aber nur publizistisch ausgetragenen Streits. In diesem Zusammenhang sprach man auch von der Entstehung einer „reformatorischen“ Öffentlichkeit. Doch weniger die Ablasskritik als vielmehr Luthers Äußerungen gegenüber der päpstlichen Gewalt waren Anlass dieser Streitschriften: Man warf ihm – mit unter mittels scharfer Polemik – Gotteslästerung und Ketzerei vor.
Neben der theologischen Auseinandersetzung war Luther ebenso in Erwartungshaltung, wie die Reaktion des Papstes ausfallen würde, nachdem Kardinal Albrecht von Brandenburg ihn im Dezember 1517 angezeigt hatte. Rom selbst forderte zunächst eine Stellungnahme von Luthers Orden ein. Vor dem Generalkapitel der Augustinereremiten musste sich dieser dann am 26. April 1518 in Heidelberg verantworten, doch dort schien der „Fall Luther“ noch als unbedeutend betrachtet zu werden.
Nach der Rückkehr aus Heidelberg verfasste Luther seine Erläuterungen zu den Ablassthesen, die Resolutionen. Die erste Fassung war schon im Februar bereits fertig, erfuhr aber noch einige Überarbeitung bis zur Veröffentlichung im August. Luthers darin sehr freimütig geäußerte Kritik erregte viel Aufsehen und verschlechterte seine Position in Rom.
Schließlich eröffnete im Sommer 1518 Rom offiziell den Prozess gegen Luther. Man ermittelte wegen Verdachts auf Häresie sowie übler Nachrede und unterstellte ihm, die päpstliche Autorität anzuzweifeln. Aus diesem Grund erhielt er die Vorladung nach Rom, wo er binnen sechzig Tagen erscheinen sollte. Würde er diesem nicht Folge leisten, drohte ihm der Kirchenbann, also der Ausschluss aus der Kirche und damit gleichbedeutend auch aus der Gesellschaft.
Luther war klar, dass der Prozess ein schlimmes Ende nehmen konnte – ähnlich dem von Jan Hus, der hundert Jahre zuvor als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der existentielle Konflikt und die Angst vor Gefangennahme, Verbannung oder gar dem Tod sind auch im vorliegenden Brief greifbar. Zumal Luther nur vom Hören-Sagen wusste, dass Kardinal Cajetan (1469-1534), der Gesandte des Papstes in Augsburg, „die Gemüter des Kaisers und der Fürsten mit aller Macht“ gegen ihn aufbringen solle. Auch konnte Luther in dieser Situation nicht absehen, ob sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, bei einem möglichen Prozess hinter ihm stehen würde. Luther bezweifelte den Kirchenstrafen entgehen zu können, „wenn der Fürst mir nicht zu Hilfe kommt“. Aus diesem Grund bat er bei seinem Vertrauten, dem kurfürstlichen Rat Georg Spalatin um Hilfe. Er fragte an, ob Friedrich ihm seinen Wunsch nach einem kurfürstlichen Geleit für die Reise nach Rom nicht abschlagen könne, sodass er begründeter Weise von Rom Fernbleiben könne. Da die Sache drängte, immerhin musste Luther die Vorladungsfrist einhalten, sollte das gewünschte Schreiben vordatiert werden.
Doch der Kurfürst lehnte diese Vorgehensweise ab, wollte ihm aber auf andere Weise behilflich sein, indem er die Verhandlungen anschob, Luthers Prozess auf dem Boden des Reiches stattfinden zu lassen. Dazu nutze Friedrich geschickt die aktuelle politische Konstellation im Reich aus: romfeindliche Ressentiments und die anstehende Königswahl. Da Friedrich der Weise eine Kurstimme innehatte und somit entscheidend für oder gegen einen Kandidaten stimmen konnte, war er ein entscheidender Machtfaktor und konnte für sein Wohlwollen so auch ein Entgegenkommen in der Luthersache einfordern. Tatsächlich fand das Verhör Luthers dann in Augsburg im Oktober 1518 durch Kardinal Cajetan statt. Doch der Prozess fand damit kein Ende. Cajetan gelang es nicht, Luther zum Widerruf zu überreden, er konnte ihn aber auch nicht nach Rom bringen, da dies Teil der Abmachung mit Friedrich dem Weisen war. Eine endgültige Klärung sollte noch lange auf sich warten lassen, was nicht zuletzt der politischen Situation geschuldet war.
Erstaunlich an diesem Verlauf bleibt aber das enorme Selbstbewusstsein und Gottvertrauen Luthers, wie es auch in diesem Brief spürbar ist. Denn für Luther stand fest, dass nur die Schrift allein, nicht der Papst, die entscheidende Norm und oberste Autorität für jedes Handeln sein könne. Mit diesem Wissen, so Luther, könne er niemals ein Ketzer sein. Die Vorgänge im Jahr 1518 ließen Luthers Ansichten somit mehr und mehr zu den revolutionären Vorstellungen reifen, die später als seine „reformatorische Entdeckung“ bezeichnet werden würden.
Literatur:
Martin Brecht, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483-1521. Stuttgart 1981.
Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995.
Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 2., durchges. Aufl. München 2013.
Nachweis früherer Editionen:
Johann Aurifaber (Hrsg.), Epistolarum Reverendi Patris Domini D. Martini Lutheri, Tomus primus, Continens scripta viri Dei, ab anno millesimo quingentesimo septimo, usque ad annum vicesimum secundum. (Epsitolarum Martini Lutheri 1) Jena 1556, 76 f. [vollständig]
Valentin Ernst Löscher (Hrsg.), Vollständige Reformations-Acta und Documenta, oder umständliche Vorstellung des Evangelischen Reformations-Wercks : mit Einrückung der darzu dienlichen, theils noch nie gedruckten, Nachrichten, So daß dieses Werck zugleich vor Theologische Annales dienen kan, Bd. 2. Leipzig 1723, 621-623.
Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken: vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, Bd. 1. Berlin 1825, 132-134. [vollständig]
Ernst Ludwig Enders (Hrsg.), Dr. Martin Luther‘s Briefwechsel, Bd. 1: Briefe vom Jahre 1507 bis März 1519. Leipzig 1884, 218. [vollständig]
Johann Georg Walch (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, Bd. 15, Teil 1: Reformations-Schriften. Zur Reformationshistorie gehörige Documente A. Wider die Papisten. Aus den Jahren 1517 bis 1524, aufs Neue herausgegeben im Auftrag des Ministeriums der deutschen ev. luth. Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten. St. Louis 1899, 433 f. [vollständig, deutsche Übersetzung]
D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 1 (Briefe 1501-1520). Weimar 1930, Nr. 87, 189–191. [vollständig]
Bemerkung:
Orig.; 1 Blatt, Papier, 21,6 x 34,5 cm, beidseitig beschrieben, Brief; Rückseite: Adresse; Verschlusssiegel des Ausstellers; Eigenhändige Ausfertigung