Historische Einordnung:
Mit dem Übergang der Stadt Wittenberg zum evangelischen Glauben sollten die neuen geistlichen Verhältnisse für zukünftige Generation festgeschrieben werden. Dafür sollte eine neue städtische Kirchenordnung verfasst werden.
Zuvor aber mussten die tatsächlichen Gegebenheiten erfasst werden: Zu diesem Zweck wurden eine erste Visitation von 1528 bis 1531 und eine zweite von 1533 bis 1534 durchgeführt, die nicht nur für die Stadt Wittenberg organisiert wurden, sondern für das gesamte ernestinische Kursachsen, um die kirchlichen Verhältnisse an den jeweiligen Orten sowie die wirtschaftliche Situation der Pfarrer zu ermitteln, den Zustand der Pfarrhäuser zu überprüfen, eine konkrete Mängelliste zu erstellen und deren Behebung festzulegen. Zum anderen sollten die Pfarrer auf Tauglichkeit und Lebenswandel geprüft werden, um zu gewährleisten, dass der Gottesdienst auch tatsächlich nach Luthers Lehren abgehalten wurde. Am Ende dieser Visitationsreise wurden die Ergebnisse, die für die Stadt Wittenberg erhoben wurden, aber auch Änderungswünsche sowie neu erlassene Vorschriften und insbesondere die Vorstellungen von Luther in einen Rechtstext gegossen, die Wittenberger Kirchenordnung.
Im Zentrum der Ordnung standen der Gottesdienst und die Rechte sowie Pflichten der Gemeinde und der kirchlichen Amtsträger, die nach den Prinzipien des evangelischen Glaubens umgestaltet werden sollten. Es wurde u. a. geregelt, welche Lehrinhalte der Pfarrer wann und wie und zu welchem speziellen Anlass (Festtage) zu predigen hatte. Eine klare Abfolge des Gottesdienstes wurde darin ebenso reguliert wie ein fester Kanon an Gesangs- und Gebetsinhalten. Überhaupt erhielten Lieder im Gottesdienst einen neuen Stellenwert: Nicht der Chor alleine, sondern die gesamte Gemeinde sollte der Träger des Gesanges sein. Die deutschen Übersetzungen erleichterten das Mitsingen ungemein. Dadurch konnte sich die Gemeinde aktiv am Gottesdienst beteiligen. Darüber hinaus werden Richtlinien für den allgemeinen Katechismusunterricht und für die Mädchen- und Jungenbildung erlassen, für die jeweils separate Schulen gegründet werden sollten. Auch dort wurden die Lehrinhalte, der Aufbau der Klassen und die Anzahl der Lehrer verbindlich festgelegt. Außerdem enthielt die Ordnung viele Regelungen zur öffentlichen Ordnung wie etwa zur Armenfürsorge, zur Taufe oder zu Festen. Um alle Änderungen im Kirchenwesen strukturiert umsetzten zu können, bezog sich die Ordnung auch auf die innere Organisation der Kirche. Das Personal erhielt eine klare Aufgabenzuweisung und wurde nach Verpflichtungen und Kompetenzen entsprechend entlohnt.
Der fianzielle Bedarf sollte durch die Einrichtung eines „Gemeinen Kastens“, der sämtliche Kircheneinnahmen bündelte, bestritten werden. Die Stadt zog mit der Ordnung das Recht an sich, alle kirchlichen Einnahmen zu verwalten, verpflichtete sich aber zugleich zur Versorgung der Pfarrer, Küster, Kapläne sowie Schulmeister und musste sich auch um die bauliche Instandsetzung der Kirchengebäude kümmern. Zur Verwaltung sollte ein Vorsteher eingesetzt werden, der durch regelmäßige Rechnungslegung Rechenschaft vor dem Rat abzulegen hatte. Das Geld für den Gemeinen Kasten speiste sich aus den Opfergaben der Gemeinde, aber beispielsweise auch aus den Vermögen der ehemaligen Bruderschaften und Stiftungen, die mit dem neuen Glauben hinfällig geworden waren. Insgesamt sollten mit der Ordnung die theologischen Grundlagen des Gottesdienstes und die materielle Ausstattung der Kirchenbediensteten sowie der dazugehörigen Gebäude sichergestellt werden.
Der Wittenberger Ordnung von 1533 waren natürlich frühere Beispiele vorrausgegangen, die stilprägend in die neue Ordnung übernommen, präzisiert oder an die neuen Gegebenheiten angepasst wurden. Diese waren u. a. die „Ordnung des gemeinsamen Beutels“ (1520/21), die „Löbliche Ordnung der Fürstlichen Stat Wittemberg“ (1521) und die „Leisniger Kastenordnung“ (1522/23).
Ziel einer Kirchenordnung war es, eine Neugestaltung der kirchlichen Strukturen rechtlich festzuschreiben. Dabei war die Wittenberger Kirchenordnung auch eine Reaktion auf die Probleme der Zeit, denn nicht nur galten alte katholische Vorschriften nicht mehr, für die neue Regeln gefunden werden mussten, sondern es mussten ebenso die beklagten geistlichen Missstände beseitigt werden. Dabei wurden alle kirchlichen Aufgaben bis ins kleinste geregelt, um keinen Interpretationsspielraum zu zulassen. Zum einen diente dies zur Konsolidierung und zur Verfestigung der evangelischen Stadt, wirkte sich aber zum anderen auch auf die Kontrolle der Kirchenmitglieder aus: Die Gemeinde sollte nicht nur in einem christlich, evangelischen Sinne erzogen werden, es wurde auch in einem bis dahin nicht gekannten Maße von der Obrigkeit in die kirchlichen Belange eingegriffen. Dies sind erste Anzeichen einer aufkommenden frühmodernen Staatlichkeit, die es sich zum Ziel gemacht hat, das Wohl der Untertanen zu fördern, aber auch diese zu kontrollieren und zu disziplinieren. Die Wittenberger Ordnung selbst wurde zum Vorbild zahlreicher evangelischen Kirchenordnungen im Reich.
Literatur:
Sabine Arend, ‚Lassets alles züchtiglich vnd ordentlich zugehen‘. Vorstellungen von ‚guter Ordnung‘ in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Irene Dingel/Armin Kohnle (Hrsg.), Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reformationszeit. (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie Bd. 25) Leipzig 2014, 31-47.
Michael Beyer, Die Neuordnung des Kirchengutes, in: Helmar Junghans (Hrsg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen. 2. Aufl. Leipzig 2005, 93-114.
Martin Brecht, Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1986.
Antje Gornig, Die erste Visitation in Wittenberg im Spiegel städtischer und kirchlicher Quellen, in: Dagmar Blaha/Christopher Spehr (Hrsg.), Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen [derzeit in Vorbereitung].
Vicky Rothe, Die ersten beiden Visitationen im Amt Wittenberg 1528/29 und 1533/34, in: Dagmar Blaha/Christopher Spehr (Hrsg.), Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen [derzeit in Vorbereitung].
Dorothea Wendebourg, Lust und Ordnung. Der christliche Gottesdienst nach Martin Luther, in: Jan Brandemann/Kristina Thies (Hrsg.), Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Kirchliche Rituale in der Frühen Neuzeit. (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496 Bd. 47) Münster 2014, 111-122.
Nachweis früherer Editionen:
Carl Eduard Förstemann, Neues Urkundenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirchen-Reformation Bd. 1. Hamburg 1842, 381-394.
Emil Sehling (Hrsg), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Erste Abtheilung. Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten, Erste Hälfte: Die Ordnung Luthers. Die ernestinischen und albertinischen Gebiete. Leipzig 1902, Nr. 162, 700-710.
Karl Pallas (Bearb.), Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreis, Zweite Abteilung. Erster Teil: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna. (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 21) Halle 1906, 1-32.
Ruth Kastner (Hrsg.), Quellen zur Reformation 1517-1555 (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 16). Darmstadt 1994, 405-417. [Auszug]
Bemerkung:
Orig., 34 Bl., Papier, 18,8 x 31,4cm, beidseitig beschrieben; Visitationsprotokoll